Die besondere und für das Linksrheinische prägende und typische Geschichte des Herrnsheimer Schlosses und der Dalberger zwischen 1788 (Anlage des Englischen Gartens) und 1883 (Verkauf des Anwesens) ist beispielhaft für die nach Westeuropa orientierte Entwicklung der Rheinregion. Daher soll die „Dalbergakademie“ als Vermittlungsinstitution für aufklärerisches Gedankengut im deutschen Westen den „genius loci“ vergegenwärtigen. Architektur und Park sind nicht ohne den Geist der Aufklärung und deren kulturelle und politische Wirkungen links des Rheins zu verstehen.
Die Kulturkoordination der Stadt Worms und der Förderverein Schloss und Park Herrnsheim e.V. haben mit Sommervorträgen einen Anfang für die Dalbergakademie geschaffen.
Thema 2018: Die andere Türkei (Kooperation Orientinstitut Istanbul)
Thema 2019: Polen – immer Richtung Westen (Kooperation Deutsches Poleninstitut Darmstadt)
Thema 2021: Humanismus und Reformation (Kooperation Lutherjahr 2021)
Thema 2022: Die Aufklärung am Rhein und die Dalberger
Thema 2023: Gartenideen um 1800 und der Herrnsheimer Schlosspark
Zwischen 1788 und 1793 entwarf der 1808 geadelte Gartenbauarchitekt Friedrich Ludwig Sckell im Auftrag Wolfgang Heriberts von Dalberg einen Park für das Herrnsheimer Schloss. Sckell verstarb vor zweihundert Jahren in München.
Beeinflusst waren seine Ideen von Landschaftsgärten, die er in den 1770er-Jahren in England gesehen hatte. Das aufklärerische Interesse der Dalberger kannte auch den von 1763 bis 1776 durch René de Girardin an seinem Schloss in Ermenonville angelegten Park, der Rousseau gewidmet war.
Die fünfte Dakbergakademie beschäftigt sich mit den durchaus kontrovers debattierten Gartenideen vor und nach 1800 und setzt sie in Beziehung zu den Umsetzungen im Herrnsheimer Schlosspark.
Dabei kooperiert die Kulturkoordination mit der Grünflächenabteilung der Stadt und dem Förderverein Schloss und Park Herrnsheim e.V. sowie den Staatlichen Schlössern und Gärten Hessen, die unter www.sckell2023.de eine Website "Auf den Spuren des Gartenkünstlers Friedrich Ludwig von Sckell anlässlich dessen 200. Todestag" aufgesetzt haben.
(Volker Gallé)
Die Vorträge wurden im Rahmen der 5. Dalbergakademie vom 17.-19. August 2023 gehalten.
Wie entsteht eine digitale Ausstellung? Der Vortrag soll einen Blick hinter die Kulissen zur "Digitalen Ausstellung zum Jubiläumsjahr von Friedrich Ludwig Sckell 2023" geben.
Auf dieser Website werden Gärten und Parks von Sckell vorgestellt. . Neben bekannten Gartenkunstwerken wie Schwetzingen in Baden-Württemberg oder dem englischen Garten München und Nymphenburg in Bayern wird dabei erstmals der Blick auch auf weniger bekannte, zum Teil auch verlorene Anlagen in Hessen, Rheinland-Palz und im Saarland gelenkt.
Sckell 2023 ist ein institutionsübergreifendes, deutschlandweites und interdisziplinäres Kooperationsprojekt. Tauchen Sei ein in die digitale Welt der Kunst und entdecken Sie die Verbindung zwischen Natur und Kunst.
Der Vortrag gibt einen Eindruck von den umfang- und artenreichen Beständen im herrnsheimer Schlosspark anhand der vorhandenen Pflanz und Gehölzlisten.
Dadurch entsteht ein Einblick in die Parkgestaltung im 19 Jahrhundert unter dem Nachfolger Johann Michael Zeyher und die Vorlieben der damaligen Auftraggeber. Geliefert wurden die Pflanzen von der Baumschule des Schwetzinger Schlosses und von den Gebrüdern Baumann aus Bollwiller im Elsass.
In der Dalbergbibliothek fand sich ein Exemplar von Girardins bekanntem Wegweiser durch die von Rousseau inspirierten Gärten von Ermenonville aus dem Jahr 1788. In dieser Tradition steht auch der Herrnsheimer Schlosspark mit seinen zwischen 1788 und 1793 entstandenen Entwürfen des berühmten Gartenbauarchitekten Sckell und deren späteren Umsetzungen. Diese Anlagen leben im Wesentlichen vom Gehen und Schauen in Blickachsen, die Naturerfahrung ästhetisch inszenieren. Der Saulheimer Gutsbesitzer Johannes Neeb, von Haus aus Philosoph und in den Feuilletons seiner Zeit journalistisch tätig, setzte dieser bis in bürgerliche Kreise beliebten Mode 1817 seine "Gedanken eines Realisten in Dingen des Geschmacks über englische Gärten" entgegen und lobte darin die bäuerlichen Nutzgärten.
Eine ähnliche Perspektive wird auch in den Gedichten des Badenheimer Bauerndichters Isaak Maus sichtbar. Es gibt wohl auch ein Gehen und Schauen, aber es überwiegen das Arbeiten und Genussnutzen.
Gärten und Parks sind externe Wunderkammern, mit sinnlichen Zeichen versehene Naturräume, die gelesen und interpretiert sein wollen.
Ausgehend vom Schlosspark Herrnsheim ordnet der Vortrag die Gartenaktivität des späten 18. Jahrhunderts in das ästhetische Denken der Epoche ein. Der Garten wird zum pleasure ground: zu einem begehbaren Kunstwerk, das gleichzeitig als soziopolitisches Projekt fungiert. Texte von Carl von Dalberg, Goethe, Herder und Schiller bilden die Grundlage der Darlegung.
Perlagonien stammen aus Südafrika, Asien und Australien. Seit dem 17. Jahrhundert erfreuen sie zunehmend Pflanzensammler in Europa.
Der Vortrag gibt Einblicke in die Sammlung historischer Pelargonien in Herrnsheim, die vor allem zur Gestaltung des Schlosshofes und des Umgangs genutzt wurden. Dafür wurden historische Listen und Fotografien ausgewertet. Der Vortrag ist mit zahlreichen Abbildungen unterlegt.
Die französische Aufklärung stieß im 18.Jahrhundert besonders beim deutschen Bildungsbürgertum in den rheinischen Städten auf großes Interesse. Über Lesegesellschaften, die sich auch mit Zeitungen aus Straßburg versorgten, wurden die Ideen von Freiheit und Gleichheit über Standes- und Konfessionsgrenzen hinweg diskutiert. Die Mainzer Universität berief Professoren, die sich am Gedankengut der Aufklärung orientierten. Neben Rousseau und Montesquieu spielte hier vor allem Kant eine nachhaltige Rolle. Es kam auch zur Gründung von Freimaurerlogen. Aus diesem Milieu kamen die meisten Mitglieder der Gesellschaften der Freunde der Freiheit und Gleichheit, die in der Mainzer Republik 1792/93 eine Rolle spielten, sei es in Mainz, Worms, Speyer oder den Landgemeinden.
Der gesellschaftliche Umbruch der napoleonischen Zeit erfasste auch von der Aufklärung inspirierte Adelskreise wie die Dalberger und prägte selbst nach dem Wiener Kongress das politische Klima in den Klein- und Mittelstaaten am Rhein.
Trotz der Niederlage der Demokraten in der Revolution von 1848/49 blieb deren von frühen Verfassungen geprägte Weg als "drittes Deutschland" neben Preußen und Österreich lange Zeit eine Option für die Entwicklung eines föderalen Nationalstaates mit starken Parlamenten.
Die Vorträge wurden im Rahmen der 4. Dalbergakademie vom 24.-26. August 2022 gehalten.
Im Jahr 1784 veröffentlichte Immanuel Kant den Aufsatz "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?". Beginnend mit der Feststellung "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" gab er dieser Bewegung damit ihre zeitlose Bestimmung und mit der anschließenden Forderung "Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen" ihren eindringlichen Leitspruch. Im weiteren benennt die Schrift die Voraussetzungen, die auch heute noch für ein aufgeklärtes Zeitalter unabdingbar sind.
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist ein ambivalenter Aufklärer. In seinen beiden Discours dominiert die Zivilisations- und Gesellschaftskritik. Er vertritt mit Verve, gegen den herrschenden Adel und Klerus, die Interessen und Rechte der Freiheit, des aufrechten Bürgersinns und des einfachen Volkes. Er denkt geschichtlich. Sein Contrat Social entwirft die kaum noch realisierbare Struktur einer republikanisch freien politischen Gemeinschaft, sein Émile das Programm einer Erziehung zu persönlicher Identität inmitten einer verdorbenen Gesellschaft. Der Vortrag versucht, die verschiedenen Facetten seines komplexen Denkens darzulegen.
Der Hauptbestand der 1883 versteigerten, mehrsprachigen Bibliothek stammte aus der Zeit zwischen 1770 und 1830. Es finden sich Werke von Rousseau, Montesquieu, John Locke und David Hume, aber auch Lessing, Schubart, Herder und Schiller. Vor allem die Französischen Aufklärer und die Weimarer Klassik werden auch in den Schriften der Dalbergbrüder Karl Theodor, Wolfgang Heribert und Johann Hugo zitiert. Emmerich Joseph hat diese Sammlung offenbar bis in den Vormärz fortgesetzt. So findet sich auch eine "Nationalgeschichte der Deutschen" von 1825/26 aus der Feder Heinrich Friedrich Gagerns.
Wie selbstverständlich wird bei aktuellen Debatten auf die Tradition der Aufklärung und die Tugend des Aufklärerischen und damit auf das 18. Jahrhundert verwiesen. Dieses Gemeinplatzdenken unterschlägt die historisch-konkrete Gemengelage unterschiedlich motivierter Ansätze, was Aufklärung heißt, und wie sie mit welchem Ziel betrieben wird. Der Vortrag stellt das Selbstverständnis Carl von Dalbergs vor, das in seiner Zeit viele andere Selbstdenkprozesse beeinflusst hat.
Die von der britischen Insel ausgehende Freimaurerei fasste im deutschen Südwesten erst sehr spät Fuß. Bis Ende der 1770er Jahre gab es nur in Mannheim eine Loge. Dagegen entstanden ab 1779 mehrere Bauhütten und ab 1782 illuminatische Minervalkirchen - u.a. in Worms, Heidelberg, Kaiserslautern und Grünstadt - bevor die in Bayern einsetzende Illuminatenverfolgung und das Freimaurerpatent Josephs II. 1785 die se Entwicklung jäh beendeten.
Im Januar 1522 schreibt Erasmus aus Basel an einen mit ihm befreundeten Humanisten nach Freiburg: "Wie die Luthersache ausgehen wird, weiß ich nicht. Ich habe von Anfang an immer einen stürmischen Ausgang erwartet, jetzt fürchte ich ihn." Denn seit dem Reichstag zu Worms, im April 1521, hatte sich die "Luthersache" bedrohlich verschärft. Erasmus ist schon über fünfzig Jahre alt, als er gegen seinen Willen von diesem "Weltsturm", wie er es nennt, erfasst wird. "Warum erlaubt man mir nicht, bloß Zuschauer zu sein bei dieser Tragödie, der ich doch so wenig geeignet bin, als Schauspieler mitzuwirken?", wird Erasmus nicht müde zu klagen. Gerade hat er sich im schweizerischen Basel niedergelassen. Sieben Jahre wird er dort wohnen, bis ihn 1529 der Sturm der Reformation daraus vertreibt. Aber noch ist es nicht soweit. Im September 1522 greift er – wie so häufig in den letzten Jahren – wieder einmal das leidige Thema 'Luther' auf und erklärt in einem Brief an den Herzog Georg von Sachsen: "Luther, das lässt sich nicht leugnen, hatte die allerbeste Sache angefangen. Hätte er nur eine so wichtige Sache gemäßigter in Stimme und Sprache geführt und sein Gutes nicht durch unerträglich Schlechtes verpfuscht! Jetzt steht zu befürchten, dass so viel Gutes untergeht, was ich nicht abgeschafft sehen möchte."
Denn viel steht für den Humanisten auf dem Spiel – nicht mehr und nicht weniger als die Frucht seiner mehr als dreißigjährigen unermüdlichen Anstrengung um eine Reform des Christentums durch humanistische Bildung. Um seine Erneuerung durch die Wiedererweckung des antiken Schrift- und Gedankenguts, mit dessen Geist er gegen eine durch scholastische Spitzfindigkeiten deformierte Theologie, gegen eine institutionell erstarrte und die Menschen bevormundende Glaubenspraxis und nicht zuletzt gegen die durch selbstherrlichen Machtwahn von Kirchenfürsten und Papst verweltlichte Kirche anzukämpfen sucht. Schon in seinen "Colloquia familiaria", den "Vertrauten Gesprächen", von 1518 hatte der Humanist beherzt unterstrichen: "Nichts was fromm ist und zu guten Sitten beiträgt, soll man heidnisch nennen. Der Heiligen Schrift gebührt zwar überall das höchste Ansehen, gleichwohl stoße ich teils auf Aussprüche der Alten, teils auf Schriften der Heiden, auch von Dichtern, die so rein, so ehrwürdig und so vortrefflich sind, dass ich nicht glauben kann, dass ihren Verstand, als sie das schrieben, nicht irgendein gutes Wesen lenkte. Vielleicht ergießt sich der Geist Christi weiter, als wir zu erkennen meinen."
Als Erasmus 1518 seine "Colloquia" veröffentlicht, ist Luther in der Welt der Gelehrten längst kein Unbekannter mehr. Und längst findet er als einer, der Kritik an Theologie, Kirche und Papst übt und auf Reformen drängt, Beifall in den Humanistenkreisen – auch bei Erasmus. Von Anfang an jedoch ist es eine Mischung aus Sympathie und Abneigung. Denn im Grunde gibt es kaum Gemeinsamkeiten zwischen Erasmus und Luther. Luther steht dem Humanismus, der auf Bildung, Selbstverantwortung und Mündigkeit des Menschen setzt, gleichgültig gegenüber. Erasmus wiederum hasst Aufruhr und Gewalt, zudem bangt er um die Einheit des Christentums – "Denn wieviel mehr entspräche es dem Sinne Christi, in der ganzen christlichen Welt ein Haus zu sehen!" Aber zu seinem Leidwesen werden er und Luther viel zu häufig in einem Atemzug genannt. Bereits in seinem ersten Brief an Luther vom Mai 1519 – im März desselben Jahres hatte sich Luther zum ersten Mal direkt an ihn gewandt – stellt Erasmus klar: "Mit Worten könnte ich nicht sagen, welchen Sturm Deine Bücher hier hervorgerufen haben. Ich habe Deine Bücher noch nicht gelesen; infolgedessen missbillige und billige ich nichts. Soviel wie möglich halte ich mich neutral, um desto mehr dem Wiederaufblühen der Wissenschaft nützlich zu sein. Meines Erachtens kommt man mit bescheidenem Anstand weiter als mit Sturm und Drang. Auf diese Weise hat Christus sich die Welt unterworfen." Dies schreibt Erasmus aus Löwen, seinem damaligen Wohnsitz, von wo ihn bereits zwei Jahre später, im Sommer 1521, Verhetzung und böswillige Verquickung seiner Sache mit der Sache Luthers verjagen wird.
Doch je weiter sich die Situation in den folgenden Jahren zuspitzt, desto stärker gerät Erasmus unter Druck, endlich seine Neutralität – sein Sich- Heraushalten, auch seine Zögerlichkeit – aufzugeben und deutlich gegen Luther Stellung zu beziehen. An welchem Punkt aber sollte der Humanist ansetzen, um eine Auseinandersetzung – eine "wissenschaftliche Unterredung oder ein Gespräch" –, wie Erasmus es lieber nennt, mit dem Reformator zu führen? Denn eins war klar, es konnte nicht um Ablasshandel, Zeremonienwesen oder die Sakramentenfrage gehen. Also, nicht um Beiwerke, Nebensächlichkeiten, worüber sich beide wahrscheinlich gut hätten verständigen können. Es musste etwas Grundlegendes sein, bei dem er und Luther zutiefst uneinig waren.
Als Humanist war Erasmus natürlich mit der alten Streitfrage um die Auslegung der "conditio" des Menschen, also, um die Auslegung der menschlichen Seinslage, bestens vertraut, die im Übergang zur Neuzeit erneut aufgebrochen war. In Absetzung vom Mittelalter, das diese Frage mit dem Hinweis auf die elende und erlösungsbedürftige "miseria" des Menschen beantwortet hatte, rückte nun mit der beginnenden Neuzeit seine "dignitas", seine Würde, in den Blick. Schließlich sei der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen worden. Deshalb beruhe auf dieser ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit des Menschen auch seine ursprüngliche, mithin essentielle Würde. Als weichenstellend für diesen Gedanken galt die berühmte Rede des Renaissancephilosophen Pico della Mirandola von 1486 – sie trug den programmatischen Titel "De hominis dignitate", "Über die Würde des Menschen". Darin heißt es, dass Gott dem Menschen die Freiheit gegeben habe, sich selbst als sein "eigener, frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer" zu der Gestalt auszuformen, die er selbst für sich bevorzuge. Obwohl Picos Schrift bei Erasmus keine Erwähnung findet, hatte er Kenntnis von ihr wie auch von den Schriften anderer Renaissancephilosophen. Er erwähnt Pico in seinen Briefen und lobt die "fast göttliche Fruchtbarkeit seines Geistes". Auch wenn sich Erasmus selbst primär als Philologe und Gelehrter und keineswegs als Philosoph verstanden hat, so war dennoch der geistige Horizont, worin sich sein Denken und Schreiben bewegt, durch diese Erneuerer christlicher Philosophie aus dem Geist der Antike mit aufgespannt worden. So stößt der Humanist bei seinem anstehenden "Gespräch" mit dem Reformator – einem freilich nur schriftlich geführten Gespräch – nicht von ungefähr auf jene Grundfrage, wie denn die "conditio" des Menschen zu deuten, und damit auf die Frage, wie das Verhältnis von Selbstbestimmung und Glauben, von Willensfreiheit und Gnade auszulegen sei.
Anfang September 1524 ist es soweit. Erasmus bringt seine Schrift "De libero arbitrio", "Vom freien Willen", heraus. Zuvor hatte er im Mai in einem Brief an Luther erklärt: "Ich habe bisher nichts gegen Dich geschrieben, obwohl ich es unter lebhafter Zustimmung der Fürsten hätte tun können. Dass Du gegen mich schreibst, kümmert mich nicht viel. Aber wenn Du bereit bist, allen Rechenschaft von dem in Dir lebenden Glauben zu geben, warum ärgert es Dich, wenn jemand, nur um zu lernen, mit Dir disputieren will?" Kaum ist sein neues Buch erschienen, verschickt Erasmus es an Freunde und Bekannte aus beiden Lagern, auch an den Beichtvater und Sekretär des Papstes nach Rom: "Ich schicke Dir die Schrift "Vom freien Willen" wohl wissend, wie wenig ich mich da auf meinem Arbeitsfelde bewege und welches Gewitter ich damit auf mein Haupt lade, aber ich wollte zeigen, dass es mir wirklich nicht an gutem Willen fehlt. Möchte doch dieser von Luther erregte Tumult wie eine scharfe Arznei uns ein wenig gute Gesundheit bringen!" Mit wenig Lust, aber mit viel gutem Willen hatte sich Erasmus also an das Thema "Vom freien Willen" gewagt, im Wissen darum, auf welch neuralgischen Punkt er damit bei Luther stößt.
"Vor kurzem wurde dieser Gegenstand wieder hervorgeholt von Martin Luther", schreibt Erasmus gleich zu Beginn seiner Schrift. Dieser hatte in seiner "Heidelberger Disputation" von 1518 unmissverständlich erklärt: "Das freie Willensvermögen nach dem Sündenfall ist ein bloßer Name, und indem es tut was in seinen Kräften steht, sündigt es tödlich. Das ist offenkundig, weil es gefangen und Knecht der Sünde ist, nicht dass es nichts wäre, sondern dass es nicht frei ist, außer zum Bösen." Als Belege führt Luther Stellen aus der Bibel und von Augustinus an. Er zitiert Joh. 8, 34: ""Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht. Wenn der Sohn euch freimacht, seid ihr wahrhaftig frei." Von daher sagt der selige Augustinus: "Das freie Willensvermögen ohne Gnade vermag nichts als zu sündigen. Frei nennt ihr es, aber es ist vielmehr ein geknechtetes Willensvermögen"" Mit diesen Zitaten bekräftigt und stützt Luther ein Kernstück seiner reformatorischen Glaubenslehre, nämlich: "sola gratia" – "allein durch Gnade" könne der Mensch in seinem Handeln und in seinen Werken gerechtfertigt werden. Gewiss stehe es jedem Menschen frei, sich in seinem alltäglichen Tun und Lassen um ein anständiges Leben zu bemühen, den Sitten und den christlichen Geboten zu folgen, gute Werke zu vollbringen – oder eben auch nicht. Diese Freiheit hat er. Dennoch sollte er sich bloß nicht einbilden, er könne durch eigenes Ermessen das Wohlwollen Gottes erwirken, er könne sich die von ihm als gut und fromm erachteten Werke gleichsam als Verdienste vor Gott anrechnen lassen und sich dadurch sein Seelenheil quasi erkaufen. Für Luther geradezu eine dreiste menschliche Anmaßung: "Der Mensch, der glaubt, er wolle dadurch zur Gnade gelangen, dass er tut, was in seinen Kräften steht, fügt Sünde zur Sünde hinzu, so dass er doppelt schuldig wird." Warum doppelt? Luthers Antwort: "Indem der Mensch tut, was in seinen Kräften steht, sündigt er und sucht damit überhaupt das Seine. Aber wenn er glauben sollte, durch Sünde der Gnade würdig zu sein oder für die Gnade geeigneter zu werden, fügt er sogleich hochmütige Vermessenheit hinzu." Der Mensch kann also nur sündigen im Guten wie im Schlechten – dies ist und bleibt das Seine, dies sein untilgbares Erbe aus dem Sündenfall.
Ein solcher Rigorismus in Sachen Willensfreiheit ist Erasmus so grundfremd wie zutiefst fragwürdig. "Obwohl Luther die Sache mit allen Mitteln und mit großem Schwung dreht und wendet, muss ich offen gestehen, dass er mich noch nicht überzeugt hat." Außerdem kann Erasmus als Humanist eine solche Sicht auf den Menschen keinesfalls akzeptieren, ohne damit gleichzeitig die humanistische Grundüberzeugung von der "dignitas hominis", von der Wesenswürde des Menschen trotz Sündenfall, preiszugeben. "Die Feststellung des freien Willens hätte in einer Weise erfolgen sollen, dass das Vertrauen auf menschliches Verdienst nicht verloren ging", wendet er ein. Denn wozu, fragt er, würde der Mensch taugen, wenn Gott lediglich "so an ihm wirkte, wie der Töpfer am Ton wirkt"? Nicht dass Erasmus als guter Christ die Unerlässlichkeit göttlicher Gnade leugnet – aber wenn der Mensch nichts weiter vermöchte, als lediglich Sünde auf Sünde zu häufen, wenn er also in seinem Tun und Lassen allein göttlichem Wirken und seiner Gnade anheimgegeben wäre, wozu sollte sich der Mensch dann überhaupt selbst um ein christgemäßes Leben bemühen? Und wozu brauchte die Heilige Schrift den Menschen dann überhaupt zu lehren, zu ermahnen, zu tadeln, aufzurütteln? "Wenn man sagt", schreibt Erasmus, "es gebe so wenig ein Verdienst des Menschen, dass alle Werke desselben Sünde seien, wenn man sagt, unser Wille könne nicht mehr leisten als der Ton in der Hand des Töpfers, dann stoße ich auf viele Bedenken."
Luther hatte gemäß seinem weiteren theologischen Grundsatz: "sola scriptura" – "allein die Schrift" auch in seiner "Heidelberger Disputation" die Heilige Schrift als höchste Autorität für seine Thesen zum Thema menschlicher Willensfreiheit zugrundegelegt. Deswegen hatte Erasmus entschieden, sich in seiner Schrift ebenso in der Hauptsache auf diesen Korpus christlicher Grundtexte zu beziehen und ihn sichtend und fragend durchzugehen – denn dies ist ohnehin seine Stärke als Philologe, als intimer Kenner des Griechischen wie des Lateinischen und als gewissenhafter Neuübersetzer des Neuen Testaments. "Da nun einmal Luther die Autorität keines noch so anerkannten Schriftstellers gelten lässt, vielmehr nur auf die kanonischen Schriften der Bibel hört, ergreife ich ungemein gern diese Gelegenheit, mir Arbeit zu ersparen", bemerkt Erasmus nicht ohne Süffisanz. Außerdem gebe es allein schon in der Bibel Aussagen über Aussagen zum Willen, die sich pro oder contra menschlicher Willensfreiheit verstehen lassen. So erklärt Erasmus direkt am Anfang seiner Vorrede: "Unter den vielen Schwierigkeiten, die einem in der Heiligen Schrift begegnen, ist kaum ein so unergründlicher Irrgarten wie der vom freien Willen. Dieser Gegenstand hat schon manchmal in alter und in neuerer Zeit den Geist der Philosophen und Theologen in erstaunlichem Maße beschäftigt, jedoch – wie mir scheint – mit mehr Mühe als Erfolg."
Denn keineswegs klar und eindeutig, erweist sich für Erasmus auch die Heilige Schrift als ausgesprochen deutungsbedürftig und dies ganz besonders in der Frage der Willensfreiheit. Doch wie sollte es auch anders sein, schließlich ist dem menschlichen Geist die Einsicht in die allerhöchsten Dinge nicht ohne weiteres gegeben. Wie es jene gern behaupten, die glauben, vom rechten Geist erleuchtet zu sein, und daher die Deutungshoheit in Sachen Bibelwort für sich beanspruchen. Erasmus: "Ich höre den Einwand: "Wozu bedarf es eines Auslegers, wenn die Heilige Schrift klar und verständlich ist?" – Wenn die Heilige Schrift wirklich klar und verständlich wäre, warum sind dann all die vielen Jahrhunderte lang all die hervorragenden Leute wie blind gewesen? Wenn nichts in der Schrift dunkel wäre, wozu hätte es zur Zeit der Apostel einer Prophetie bedurft?" Dies fragt Erasmus nicht zuletzt auch mit Blick auf Luther und dessen Wahrheitsbehauptungen zum Thema 'Willensfreiheit' und hält selbst als Vorgehensweise für seine eigene Schrift fest: "Wenn ich mir auch zutraue, verstanden zu haben, was Luther zur Sache sagt, so kann ich mich doch irren; deshalb will ich nur untersuchen, nicht richten, nur prüfen, nicht entscheiden, bereit, von jedem beliebigen zu lernen, wenn etwas Richtigeres oder Zuverlässigeres vorgebracht werden sollte."
In bewährter Gelehrtenmanier will sich Erasmus also mit eigenen Behauptungen zurückhalten, erst einmal schauen und entsprechende Bibelstellen zum Thema befragen. So sammelt er im ersten Teil seiner Schrift "Beweise für den freien Willen", wie sie im Alten und im Neuen Testament vorgebracht werden.Ohne Erasmus hier auf seinem Weg durch den "unergründlichen Irrgarten" im Einzelnen folgen zu wollen, sei als Beispiel eine Passage zitiert. Darin führt Erasmus aus: "Der Herr sagt zu Moses: Ich habe dir vorgelegt den Weg des Lebens und den Weg des Todes. Wähle das Gute und folge ihm. Konnte es noch deutlicher gesagt werden? Gott zeigt, was gut und was böse ist; er stellt Lohn und Strafe in Aussicht und er lässt dem Menschen die Freiheit der Wahl. Lächerlich wäre es allerdings, jemanden zur Wahl aufzufordern, der nicht imstande wäre, sich hierin oder dorthin zu wenden; das wäre gerade, als wollte man einem, der am Scheideweg steht, sagen, er sehe zwei Wege vor sich und solle wählen, welchen er wolle – während dagegen nur ein Weg für ihn gangbar wäre." Warum also, fragt Erasmus weiter, ist in der Bibel so oft von guten und schlechten Werken die Rede, so oft von Lohn und Strafe, wenn tatsächlich der Mensch "bei guten und bösen Werken lediglich ein solches Werkzeug für Gott wäre, wie es die Axt für den Zimmermann ist?"
Im zweiten Teil seiner Schrift sammelt Erasmus "Scheinbare Beweise gegen den freien Willen". Auch dafür sei eine Stelle angeführt. Erasmus schreibt: "Ein Schriftbeweis der Gegner ist Jes.: Wehe dem, der seinem Schöpfer widerspricht, ein Gefäß von Ton! Darf wohl Ton zu dem Töpfer, der ihn formt, sagen: "Was machst du da?" Derlei Gleichnisse, wie sie die Schrift verwendet, sind sehr lehrreich, aber nicht in allen Stücken anwendbar. Es wäre doch wohl so töricht wie nur möglich, wenn jemand zu seinem Nachtgeschirr aus Ton sagen wollte: "Wenn du dich sauber hältst, wirst du ein nützliches und edles Gefäß sein." Sinnvoll aber ist es, wenn dieses einem mit Vernunft begabten Gefäß gesagt wird, das auf Grund dieser Mahnung sich dem Willen des Herrn anpassen kann. Denn sonst wäre niemand außer dem Töpfer für die Beschaffenheit des Gefäßes verantwortlich zu machen. Dann würde also ein Gefäß, das keiner Selbstbestimmung fähig ist und deshalb unmöglich etwas verschuldet haben kann, ins Höllenfeuer geworfen!" Nicht ohne frechen Witz macht Erasmus hier dem Tongefäß einen Nachttopf, wofür ihn wohl nicht nur Luther am liebsten gleichfalls ins ewige Höllenfeuer geworfen sähe.
"Sola gratia" – einzig und allein durch Gnade werde der Mensch in seinem Tun gerechtfertigt, hieß es bei Luther, sein Willensvermögen leiste dabei nichts. Nein, wirft Erasmus ein, so ist es ganz und gar nicht. Zwar sei auf dem Heilsweg der Menschen das allermeiste der Gnade zuzuschreiben, aber auch der menschliche Wille leiste dazu das Seine. Luther hatte betont: "Indem der Mensch tut, was in seinen Kräften steht, sündigt er und sucht überhaupt das Seine." Ganz ohne Frage, so Erasmus, sündigt der Mensch und das sogar nach Kräften, doch zu dem Seinen gehört auch kraft seiner ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit die prinzipielle Einsichtsfähigkeit in Richtig und Falsch, in Gut und Böse, gehört ebenso die Kraft, zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse wählen zu können und sich für das Gute zu entscheiden. Das bedeutet nun nicht, dass der Mensch souverän gegenüber Gott ist. Er bleibt auf seinem Weg des Guten unabdingbar auf dessen Gnade angewiesen, damit es ein Weg zum Heil wird. Aber als ein Beistand, der dem Menschen beim freien Gebrauch seines Willens hilft und ihm und seinem Willensvermögen beisteht.
So hält Erasmus fest: "Wenn es bei Paulus heißt: Seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen – dann besinnt man sich auf den menschlichen Willen, dessen Streben mit der göttlichen Hilfe zusammengeht. Daher sagt Paulus: Ebenso kommt auch der Geist unserer Schwachheit zur Hilfe – Als schwach wird niemals jemand bezeichnet, der nichts vermag, sondern jemand, dessen Kraft zur Durchführung nicht ausreicht. Die ganze Heilige Schrift verkündet Förderung, Beistand, Hilfe und Unterstützung. Wer aber könnte als Helfer bezeichnet werden gegenüber einem, der nicht selber irgend etwas zu tun vermöchte?" Und auf diesen Beistand Gottes, so Erasmus weiter, könne der Mensch voll und ganz vertrauen. Denn Gott sei kein launischer Gott, der den Menschen nach bloßer Willkür erhöht oder verdammt. Und dieses Gottvertrauen sei "so tief im Geist der Menschen verwurzelt, dass selbst die Heiden diese Schlussfolgerung daraus ziehen: Gott ist aufs höchste gerecht und gut. In seiner Güte wird er niemanden fahren lassen, der sich selbst nicht fahren lässt." Wie stets nimmt Erasmus als guter Humanist auch in dieser Frage die sog. Heiden selbstverständlich 'mit ins Boot'. Den zweiten Teil seiner Schrift beendet Erasmus mit den Worten: "Wir setzen daher denen, die folgendermaßen schließen: "Der Mensch vermag nichts, wenn nicht Gottes Gnade ihm hilft; also gibt es keine guten Werke des Menschen" – den wohl eher annehmbaren Schluss entgegen: Der Mensch vermag alles, wenn Gottes Gnade ihm hilft; also können alle Werke des Menschen gut sein."
Wie zu erwarten liest Luther Erasmus' Schrift mit allergrößtem Widerwillen. An einen Freund schreibt er: "Es ist nicht zu beschreiben, was für einen Ekel ich an dem Büchlein vom freien Willen habe." Im Dezember 1525 tritt Luther der Schrift "De libero arbitrio", "Vom freien Willen", mit seiner Erwiderung "De servo arbitrio" – "Vom unfreien Willen" entgegen, worin er seine Ablehnung der Willensfreiheit und die völlige Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes erneut rigoros bekräftigt: "Der Mensch hat gegenüber Gott keinen freien Willen. Er wird selig oder er wird verdammt, ohne es ändern zu können." Luther macht keinen Hehl aus seiner tiefen Abneigung gegen Erasmus' Schrift. Gleich auf der ersten Seite schimpft er los: "Dein Büchlein kommt mir so nichtssagend und gering vor, dass ich Dich heftig bemitleide, der Du Deine ausgesprochen schöne und geistreiche Ausdrucksweise mit solchem Dreck besudelst, als würde Abfall und Mist in goldenen und silbernen Gefäßen gebracht." Immerhin ist es kein Nachttopf, den Luther hier Erasmus an den Kopf wirft. Mit seinem Schimpf gegen Erasmus – eigentlich ist es ein Schimpf gegen den humanistischen Gelehrten – wiederholt Luther den altbekannten Vorwurf, sich auf bloße Rhetorik und oberflächliche Gelehrsamkeit zurückzuziehen und lediglich mit Belesenheit und Bildung zu prunken, ohne sich wirklich auf die Sache einzulassen. "Erasmus, Dein Herz entschuldige ich einstweilen, aber mach bloß so nicht weiter! Fürchte den Geist Gottes, der Nieren und Herzen erforscht und sich nicht täuschen lässt durch zurechtgelegte Worte!"
Denn wie töricht sei es, in den heiligen Texten herumzufragen und textklauberisch nach Für und Wider, Licht oder Dunkel zu sondieren. Töricht sei dies, wo die einzig relevante Sache – nämlich das Erlösungswerk Jesu Christi – doch in der Welt sei und offen und klar zu Tage liege. Selbst wenn sich dies, räumt Luther ein, "schon mal hinter undeutlichen Worten verbirgt. Nun macht es nichts, wenn die Sache am Licht ist, ob irgendein Zeichen in Dunkelheit liegt. Wer würde sagen, ein öffentlicher Brunnen sei nicht am Lichte, bloß weil die, die in einer Seitengasse stehen, ihn nicht sehen, alle anderen aber, die auf dem Markt stehen, ihn sehen?" Diesen öffentlichen Brunnen zu sehen bzw. dem zu Tage liegenden Geoffenbarten zu entsprechen, aber sei keine Sache des Fragens, sondern dem genüge einzig und allein der Glaube – "sola fide". Denn allein durch seinen Glauben und allein durch die von Gott gewährte Gnade gelange der Mensch von den dunklen Seitengassen auf den Markt ins helle Licht. Dann holt Luther zum endgültigen Schlag gegen die Willensfreiheit aus: "Es ist notwendig und heilsam für den Christen, zu wissen, dass Gott alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen sowohl vorhersieht, sich vornimmt und ausführt. Durch diesen Donnerschlag wird der freie Wille zu Boden gestreckt und ganz und gar zermalmt."
So wuchtig wie selten lässt hier der Reformator seinem glühenden Glauben freie Bahn. Und hält ganz anders als Erasmus in seiner abwägenden und zurückhaltenden Art nicht hinterm Berg mit seinem eigenen rückhaltlosen Bekenntnis: "Wenn ich zu wählen hätte, wünschte ich mir keine Willensfreiheit. Ich möchte nicht die Möglichkeit haben, mich um meine Seligkeit selber zu bemühen. Es gibt so viele Anfechtungen und Gefahren. Doch auch, wenn es keine Gefahren, keine Anfechtungen gäbe, ich müsste mich aufs Ungewisse plagen. Ich hätte keinen Grund unter den Füßen. Selbst wenn ich eine Ewigkeit damit verbringen dürfte, gute Werke zu tun, könnte mein Gewissen mir niemals sagen, wieviel ich tun muss, um Gott zu genügen. Bei jedem Werk, das ich vollbrächte, bliebe das quälende Bedenken: wird es Gott gefallen? Fordert Gott nicht noch mehr? Auch ich habe das alles zu meinem großen Leidwesen viele Jahre lang durchmachen müssen. Doch Gott hat mir die Sorge um meine Seligkeit abgenommen. Ich weiß jetzt, dass meine Seligkeit von seinem und nicht von meinem Willen abhängt." Einer solch bedingungslos gläubigen Hingabe an den Willen Gottes aber kann und vor allem will Erasmus nicht folgen. Und einer solch bedingungslosen Preisgabe menschlicher Willensfreiheit ebenso wenig.
Das bedeutet zugleich den endgültigen Bruch zwischen beiden. Den Bruch zwischen Erasmus, dem Reformer, der eine Erneuerung des christlichen Lebens aus dem Geist des Humanismus anstrebt, und Luther, dem Reformator, der ein grundsätzliches Umdenken durch eine neue Glaubenshaltung fordert. Den Bruch zwischen dem Humanisten, der für ein enges Bündnis von Bildung und Glauben plädiert, und dem Theologen, dem solcher Gedanke ein Greuel ist. Es bedeutet den Bruch ebenso zwischen dem abwägenden Philologen, der den "unergründlichen Irrgarten" biblischer Textstellen als ein Fragender durchforscht, und dem hitzköpfigen Dogmatiker, dem es letztlich um unumstößliche Wahrheitsbehauptungen geht. Luther beendet seine Antwort auf Erasmus denn auch mit den Worten: "Ich habe in diesem Buch nicht Ansichten ausgetauscht, sondern ich habe feste Behauptungen aufgestellt und stelle feste Behauptungen auf. Ich will auch keinem das Urteil überlassen, sondern rate allen, dass sie Gehorsam leisten." Wie schon in seinen Schriften zuvor hatte Erasmus auch in seiner Abhandlung "Über den freien Willen" davor gewarnt, sich in seinem Glauben hinreißen zu lassen und in seiner Theologie die Grenzen menschlichen Einsichtsvermögens zu überschreiten. "Es gibt unzugängliche Stellen, wo Gott nicht gewollt hat, dass wir näher herzu dringen sollen; und wenn wir vorzudringen suchen, so tasten wir, je tiefer wir hineingehen, umso mehr im Dunkeln, sodass wir auch so die unergründliche Majestät der göttlichen Weisheit und die Hilflosigkeit des menschlichen Verstandes erkennen."
Dieser Begrenzung des menschlichen Verstandes würde Luther als Glaubender wohl gleichfalls zustimmen, obwohl er sie als Theologe bedenkenlos überschreitet. Bei Erasmus entspringt die Zurückhaltung ebenfalls seinem Glauben, vor allem aber wurzelt sie in seiner philosophischen Grundhaltung. Und diese erwächst aus dem sokratischen Wissen um das eigene Nicht-Wissen, verbunden mit der Bereitschaft, sich mit vermeintlich unumstößlichen Wahrheitsbehauptungen zurückzuhalten, gerade wo es um letzte Glaubenswahrheiten geht. Wo für Luther nur bedingungsloser Glaube und Unterwerfung unter den Willen Gottes zählt, da zählt für Erasmus philosophische Einsicht, welche die humanistische Überzeugung von der Wesenswürde des Menschen bewahrt und damit ebenso das Zutrauen in die Fähigkeit des Menschen, für sich und sein Tun selbstverantwortlich Sorge zu tragen.
Aus diesem Grund hatte Erasmus schon in seinen "Colloquia familiaria", seinen "Vertrauten Gesprächen", keinen anderen als Sokrates als das Vorbild eines solchen Menschen gepriesen. Er schreibt: "Mich dünkt, dass ich bei den Heiden nie etwas gelesen habe, das für einen rechten Christenmenschen besser passte, als was Sokrates sagte, bevor er den Schierlingssaft trinken sollte: "Ob Gott unsere Werke billigen wird, weiß ich nicht. Wir haben uns jedenfalls ernsthaft bemüht, ihm zu gefallen. Gleichwohl habe ich gute Hoffnung, dass er unsere Bemühungen gut aufnehmen wird." Wahrhaft eine bewundernswerte Gesinnung bei einem, der Christus und die Heilige Schrift nicht kannte. Wenn ich derartiges von solchen Männern lese, kann ich mich kaum enthalten zu sagen: Heiliger Sokrates, bitte für uns!" Schließt Erasmus nicht ohne seinen ihm eigenen Humor.
Doch es ist zugleich ein Stoßzeufzer in eigener Sache. Vollzieht sich doch vor den Augen des Humanisten der Untergang seiner bisherigen Welt. Und damit zugleich das Scheitern der Idee von der 'einen' Menschheit, worin Antike und Christentum, Bildung und Glauben, Wissenschaft und Religion zusammenfinden. In 'ein' Haus, wie Erasmus es für ein einheitliches Christentum erstrebt hatte. Luther, der Reformator, hatte gesiegt und die Spaltung der christlichen Welt vollzogen. Dennoch wird im weiteren Verlauf von Neuzeit und Aufklärung der humanistische Geist des Erasmus den Sieg davontragen.
Trotzdem spricht von Humanismus heute so gut wie keiner mehr. Die Rede von 'humanistischer Bildung' ist nahezu belanglos geworden. Sie wird in den unterschiedlichen Bildungsanstalten zwar noch als Pflichtprogramm vermittelt, hat aber eher etwas von einem Relikt von vorvorgestern, das mehr tot als lebendig mitgeschleppt wird. Für Erasmus dagegen war Bildung etwas höchst Lebendiges. Das Sich-Bilden war ein Geschehen ins Offene, auch ins Freie, war getragen von der philosophischen Einsicht in die wesensmäßige Nichtfeststellbarkeit und damit in die grundsätzliche Bildbarkeit menschlichen Seins. "Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz und die Gaben, die du dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest", hatte es 1486 bei Pico della Mirandola in seiner berühmten Rede "Über die Würde des Menschen" gelautet. Eine Herausforderung ist dies bis heute geblieben. Denn nach wie vor oder vielleicht sogar mehr denn je stehen die Menschen vor der Frage, als wer sie sich selbst verstehen wollen und wie sie ihr Selbstverständnis im menschlichen Miteinander in die heutige Welt und Wirklichkeit einzubringen gedenken.
© Astrid Netttling 2021
Sein Tod war skandalumwittert: Als der Wormser Bischof, Heidelberger Universitätskanzler und kurpfälzische Kanzler Johann von Dalberg achtundvierzigjährig in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1503 starb, raunte eine Flüsterpropaganda, der geistliche Herr sei beim Versuch eines Ehebruchs mit der Gattin eines kurpfälzischen Beamten ums Leben gekommen. Philipp Melanchthon wusste gar Jahrzehnte später zu berichten, eine Dirne sei dem Kirchenfürsten zum Verhängnis geworden. Die Wormser waren bekanntlich auf ihren Bischof, mit dem die Stadt jahrzehntelang harte Auseinandersetzungen ausfocht, keineswegs gut zu sprechen. Sie behaupteten sogar, bei seiner Beisetzung in der Bischofsgruft habe der Leichnam entsetzlich gerochen – man wollte wohl unter allen Umständen vermeiden, dem toten Bischof den odor sanctitatis – den Geruch der Heiligkeit; zu gönnen, der tadellos gelebt habenden heiligmäßigen Personen nachgesagt wurde.
Ganz anders urteilen die Humanisten über Dalberg, deren Stimmen zum Tod des Kirchenfürsten etwa der Heidelberger Johannes Gallinarius-Henner sammelte.
Eine Stimme herrscht bei ihnen über die geistige Bedeutung Dalbergs. Der Basler und Straßburger Humanist Sebastian Brant mit dem „Narrenschiff“ Verfasser des wohl größten Bestsellers der deutschen Literatur vor Goethes Werther, rühmt Dalberg in einem kurzen poetischen Nachruf als lux studii, für andere war er der patronus der humanistischen Studien schlechthin oder das asylum eruditorum – die Zuflucht für alle humanistisch Gebildeten.
Eine in diesem Zusammenhang wenig beachtete Ode des Mainzer Humanisten Dietrich Gresemunds des Jüngeren, der sich 1499 in Heidelberg im Umkreis Dalbergs aufgehalten hatte, fasst zusammen, was Johann von Dalberg seinen humanistischen Zeitgenossen bedeutete: Dalberg ist für seinen Panegyriker der Ruhm des Phöbus, ja Apollo selbst, Abkömmling des edlen Hauses Dalberg, berühmter noch durch den zweigipfligen Musenberg Parnassus-Heidelberg, Freund der Dichter und selbst bedeutender Dichter. Und so soll die ganze sprachgewandte Schar der Dichter herbeieilen und Dalberg als ihren Schutzherrn preisen:
Ergo nunc turbae properent disertae
Quîs caput cingunt hederae sequaces,
Te suum digno celebrent patronum
Carmine semper.
(Also mögen nunmehr die sprachgewandten Scharen herbeieilen, denen als Begleiter Efeu die Stirn bekränzt, und mögen dich in würdigem Gedicht immerzu als ihren Schutzherrn feiern).
Diese Funktion als Schutzherr der humanistischen Gemeinschaft führt dazu, dass Dalberg in weiteren Gedichten sogar als Inkarnation des Dichtungs- und Weisheitsgottes Phoebus-Apollo erscheint.
Dieser patronus wird nun als Schutzherr einer Gemeinschaft von Humanisten gefeiert. Diese hatte der deutsche „Erzhumanist“ Konrad Celtis (1459-1508) (5) nach dem Vorbild italienischer Sodalitäten etwa in Florenz oder in Rom um Pomponio Laeto, die Celtis bei seinen Italienreisen kennengelernt hatte, als Sodalitas Rhenana litteraria wohl zwischen 1493 und 1495 in Heidelberg begründet. – Sie entsprach in der Konzeption der Academia Platonica in Florenz, die sich dort unter Marsilio Ficino, dem Erneuerer des Platonismus zusammengefunden hatte. Diese Sodalitas, der bald Tochtergründungen etwa in Augsburg, an der Weichsel, in Ungarn oder später in Wien folgten, bildete ein eher loses Netzwerk von Humanisten im ganzen deutschen Kulturraum. Ihr gemeinsames Interesse lag darin, die Grundideen des Humanismus, die die meisten von ihnen bei Studienaufenthalten in Italien kennengelernt hatten, auch in Deutschland zu propagieren. Zu diesen Grundideen zählte etwa die Rückbesinnung auf die großen sprachlichen und literarischen Leistungen der Antike und eine zunehmende Konzentration auf den Menschen, dessen im Mittelalter stark betonten metaphysischen Bindungen nun im Rückgriff auf das antike Menschenbild immer mehr aus dem Zentrum rückten, ohne dass sie deshalb bei den Humanisten je ganz aus dem Blick gerieten. Neuheiden, wie in der älteren Forschung mitunter zu lesen ist, waren zumindest die deutschen Humanisten gewiss nicht. Die sprachliche Neubesinnung auf „klassisches Latein“ gegenüber dem angeblichen „Küchenlatein“ des Spätmittelalters war wesentlich gefördert worden von Lorenzo Valla (+1457), der in seinen Elegantiarum Latinae Linguae libri (1444) energisch die Rückbesinnung auf die Normen des klassischen Lateins gefordert und regelrecht von einem mysterium dieser Sprache, durch das Italien immer noch in den Köpfen der Europäer herrsche, gesprochen hatte. Dalberg selbst hatte während eines Italienaufenthaltes 1472-75 die Bekanntschaft des friesischen Humanisten Rudolf Agricola gemacht, der ihm in glänzendem Latein die Rektoratsrede verfasste, als Dalberg 1474/75 in Pavia zum Rektor der Juristenfakultät gewählt wurde. Beide schlossen offenbar enge Freundschaft, und Dalberg lud Agricola, dem selbst italienische Humanisten herausragende Kenntnisse und Fähigkeiten zuschrieben, nach seiner Rückkehr nach Heidelberg und Worms nach Heidelberg ein, wo Agricola, betrauert von Humanisten ganz Deutschlands, 1485 starb. Vorher hatte er freilich als erster humanistischer uomo universale nördlich der Alpen zu den von ihm intensiv gepflegten sprachlich-literarischen humanistischen Studien auch die mathematisch-astronomischen Wissenschaften in den Kanon der studia humaniora einbezogen. Seinen Nachfolgern, darunter eben vor allem Konrad Celtis, hinerließ er wesentliche Anregungen, die reiche Früchte trugen. Vor allem der Bamberger Humanismusforscher Dieter Wuttke hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass auch bei Celtis dieses Programm Folgen zeitigte. Sie fanden ihre Krönung nach der Heidelberger Zeit des Celtis unter der Ägide Kaiser Maximilians I. in dem Wiener Collegium Poetarum et Mathematicorum, dem Konrad Celtis bis zu seinem Tod vorstand.
In einer 1476 in Ferrara gehaltenen Rede zum Preis der Philosophie (im weiten humanistischen Sinn verstanden) hatte Agricola formuliert:
Was aber kann es für eine größere und überzeugendere Gottähnlichkeit der Philosophie geben, als durch keine Grenzen eingeengt und durch keinen Raum eingeschlossen zu werden? Denn der erhabene Geist des gebildeten Mannes geht frei und ungebunden einher, und er wird durch keine Schranken beengt und kann schweifen, soweit sich das All erstreckt; und nicht Länder und Meere allein, sondern selbst die Gestirne und bekannten Sphären des Himmels durcheilt er; auch das Allerkleinste entgeht ihm nicht, auch das Höchste bleibt ihm nicht unerreichbar, und auch das Dunkelste bleibt für ihn nicht undurchdringlich […]
In einer weiteren Rede De formando studio (1484) gibt Agricola einen an der antiken Literatur, Sprache und den Wissenschaften orientierten Studienplan, der auf programmatische Aussagen deutscher Humanisten einen nicht geringen Einfluss ausüben sollte – freilich ohne dass viele von ihnen seinen weiten geistigen Horizont erreichen konnten.
Die Verbindung zu Agricola hat nicht nur Einfluss auf Johann von Dalberg und Konrad Celtis gehabt, sondern vermag auch zu erklären, warum Dalberg gleichsam als sein Testamentsvollstrecker eine geradezu ideale Besetzung für die politische Führungsrolle in der Heidelberger Humanistengemeinschaft war. Selbst war er sehr stark humanistisch interessiert, wenn auch mehr als Sammler von antiken Handschriften und Besitzer einer im Horizont der Zeit überaus beachtlichen Bibliothek, die zum Grundstock der später so berühmten Bibliotheca Palatina wurde. Zugleich wurde er zum Anreger archäologischer Forschungen vor allem in Worms und in seiner eigentlichen Residenz Ladenburg und schrieb selbst ein Werk über antike Münzen. Als produktiver humanistischer Schriftsteller trat Dalberg zwar weniger hervor, war aber als Spross einer altadligen und hoch angesehenen und bestens vernetzten Familie besonders geeignet, die Anliegen der zumeist aus bäuerlichen oder bürgerlichen Familien stammenden Humanisten öffentlichkeitswirksam zu vertreten, ja ihnen Glanz zu verleihen. Dalbergs Bibliothek, die der Sinsheimer Humanist Johannes Wacker-Vigilius betreute und die etwa umfangreicher war als die der Universität Heidelberg, enthielt neben lateinischen auch griechische und sogar hebräische Codices, was sie etwa für den Vater der Hebräisch-Studien in Deutschland, den Pforzheimer Juristen Johannes Reuchlin (1455-1522), höchst anziehend machte.
Immerhin hatte sich auch Dalberg mit lateinischen Gedichten als humanistischer Autor profiliert, so als er bei einem Aufenthalt Kaiser Friedrichs III. in Maulbronn den Herrscher mit einem lateinischen Gedicht begrüßte, das die alte Tradition der Susceptacula Regum aufnimmt. Dalbergs noch immer wichtiger Biograph Karl Morneweg hat das Gedicht 1887 ansprechend in Anlehnung an das antike Versmaß übertragen.
Also empfangen dich hier die heilige Schar dieser Väter,
Und die Jugend, die keusch, fröhliche Lieder dir singt.
Vor dem Göttlichen sinkt in den Staub die bittende Menge,
Um ihrer Wünsche Gewähr flehet sie kniend dich an.
Möchten die Götter doch stets Deinen Taten den Segen verleihen,
Dem begonnenen Werk allezeit günstig auch sein.
Dass Dalberg – für seine Generation in Deutschland noch sehr ungewöhnlich – auch aktiv das Altgriechische recht gut beherrschte, zeigen neben lateinischen mehrere kurze Gedichte in altgriechischer Sprache auf den Tod seines Freundes Rudolf Agricola, den er als unvergleichlichen Lehrer feiert (praeceptor incomparabilis).
Sein Interesse am Griechischen und zugleich an der Vergangenheit des deutschen Volkes führte wie bei Celtis dazu, dass Dalberg große Sammlungen altgriechischer Wörter mit deutschen Parallelen anlegte, die beweisen sollten, dass die griechische und die deutsche Sprache als gleichsam „Ursprachen“ eng miteinander verwandt seien. Diese Anstöße Dalbergs, die in Bemühungen von Celtis um Reste griechischer Liturgien in Würzburg und im Fahnden nach griechischen Spuren in Deutschland eine deutliche Parallele fanden, hatten noch in der deutschen Sprachwissenschaft des Barocks deutlichen Widerhall.
Die rheinische Gelehrtengemeinschaft um Dalberg als princeps sodalitatis per Germaniam und Konrad Celtis als Spiritus Rector und primipilus, also Offizier in der ersten Schlachtreihe, wie ihn Dalberg in einem Brief nannte, war also keineswegs nur an der Antike interessiert, sondern sorgte sich intensiv auch um die in ihren Augen ruhmvolle Vergangenheit des deutschen Volkes. So edierte Celtis nicht nur die Germania des römischen Historikers Tacitus, einen Schlüsseltext für das Selbstverständnis der deutschen Humanisten in Auseinandersetzung mit den italienischen Humanisten, vor allem Gianantonio Campano und Enea Silvio Piccolomini, sondern stellte diesem Text in seiner Germania generalis das neue Deutschland mit seinen bedeutenden kulturellen Leistungen wie etwa dem Buchdruck gegenüber.
Als Großprojekt der Sodalitas forderte Celtis die Erarbeitung einer Zusammenschau der älteren Quellen der deutschen Geschichte zu einer Darstellung in einer Germania illustrata, die mit gleichgerichteten Bemühungen italienischer Humanisten wie Flavio Biondo in seiner Italia illustrata rivalisieren sollte. Während aber Flavio Biondo recht erfolgreich sein Projekt, das zum Ruhm Italiens und seiner großen römischen Vergangenheit dienen sollte, vorantreiben konnte, blieben die Bemühungen von Konrad Celtis und seiner Sodalitas um die „Erhellung Deutschlands“ in den Anfängen stecken. Über eine aufschlussreiche Beschreibung Nürnbergs in der 1502 publizierten Norimberga und über die allerdings bedeutende Elegiensammlung der Amores kam das Projekt nicht hinaus. In den Amores bietet Celtis in vier Büchern eine poetische Beschreibung Deutschlands nach den vier Himmelsrichtungen in sehr originellen Elegien, orientiert an vier wohl allegorischen Geliebten des Dichters. Erst der bayerische Celtis-Schüler Johannes Aventinus aus Abensberg konnte als an den Quellen orientierter Historiker wenigstens für die Geschichte der bairischen Herzogtümer das Programm der Sodalitas teilweise einlösen, und der glänzende Philologe und Mitarbeiter des Erasmus von Rotterdam Beatus Rhenanus, Beat Bild aus Rheinau im Elsass, erfüllte dieses Programm wenigstens für die germanische Frühzeit in seinen Germanicarum Rerum libri tres von 1531, einem Meisterwerk an historischer Quellenkritik. Es wurde freilich erst lange nach dem Ende der Sodalitas Rhenana publiziert – und ist jetzt in einer exzellenten Edition mit Übersetzung und Kommentar von Felix Mundt zu benutzen.
Eine Großtat gelang der Sodalitas im Zusammenhang mit Forschungen zur deutschen Geschichte immerhin. 1494 entdeckte Konrad Celtis im Regensburger St. Emmeranskloster einen Codex mit den bedeutenden lateinischen Dramen und Legenden der Stiftsdame Hrotsvit von Gandersheim aus ottonischer Zeit, die mit den Komödien des römischen Autors Terenz wetteiferten. Dessen erotische Dichtung wollte Hrotsvit durch fromme Dichtungen ersetzen. Damit war für die Humanisten des Celtis-Kreises der Beweis erbracht, dass schon im Mittelalter der Ottonenkaiser Deutschland bedeutende literarische Leistungen hervorgebracht hatte – und dies auch noch von einer Frau, die über im Zeithorizont hervorragende Kenntnisse der lateinischen Sprache und Literatur verfügte. Entsprechend enthusiastisch fielen denn auch die Kommentare der Mitglieder der Sodalitas aus – und wieder ist Johann von Dalberg neben zahlreichen anderen Angehörigen der Sodalität an prominentester Stelle beteiligt. Als sodalitatis literariae per universam Germaniam princeps – als Leiter der literarischen Gesellschaft für ganz Deutschland – steuerte er zu der erst 1501, sieben Jahre nach der Entdeckung, publizierten von Albrecht Dürer prachtvoll illustrierten Erstausgabe der Werke Hrotsvits durch die Sodalitas zwei kurze Epigramme bei. Im ersten betont er, dass – was das vaterländische Zeitalter nur wenigen Männern habe zuteilwerden lassen – Hrotsvit mit ihrem jungfräulichen Genie zustande gebracht habe: Roswitha virgineo praestitit ingenio. Im zweiten Epigramm stellt Dalberg Hrotsvits Leistung dem Ruhm bedeutender römischen Dichter gegenüber: Der Afrikaner Terenz habe in der Bühnenkunst Ruhm erworben, Horaz in der Lyrik, Vergil in der Kriegsepik, die gelehrte Hrotsvit aber vielfachen Lorbeer, sie übertrifft also ihre antiken Konkurrenten:
Afro laus scenae, lyra Flacco, bella Maroni:
Multiplicem laurum Roswitha docta gerit.
Konrad Celtis war so stolz auf seinen Fund, dass er Hrotsvit in einem Gedicht sogar Griechisch-Kenntnisse zuschrieb, die sie wohl nicht gehabt hat, und ihr eine umfassende Bildung attestierte, wie die Sodales überhaupt durchaus Damen zu schätzen wussten, die humanistisch gebildet waren. Nicht umsonst unterhielt Celtis rege Beziehungen zu Caritas Pirckheimer, der Äbtissin des Nürnberger Clarissenklosters und Schwester des bedeutenden Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer, und rühmte ihre humanistische, in zahlreichen lateinischen Briefen dokumentierte Bildung.
Das Beispiel der Hrotsvit sollte davor warnen, einen allzu scharfen Bruch der deutschen Humanisten mit der mittelalterlichen literarischen Tradition zu konstruieren, wie es bisweilen immer noch geschieht. Man war vielmehr nicht wenig stolz auf diese literarischen Leistungen. Das wird auch deutlich am Ligurinus, einem wichtigen, Gunther von Pairis zugeschriebenen lateinischen Epos aus der Zeit und über die Taten Friedrich Barbarossas, das ebenfalls Konrad Celtis im Kloster Ebrach entdeckt und die Sodalitas 1507 publizierte.
Wie bereits erwähnt, gehörten zu den Heidelberger zeitweiligen Mitgliedern der Sodalitas Gelehrte wie Vigilius-Wacker, Jacobus Dracontius, der Maulbronner Mönch Konrad Leontorius, der große Elsässer Jakob Wimpfeling und der Sponheimer Abt Johannes Trithemius und in Worms der sächsische Edelmann Heinrich von Bünau neben mehreren Anderen. Zu ihnen stieß auch der große Pforzheimer Jurist Johannes Reuchlin, Verteidiger des jüdischen Schrifttums gegen Angriffe der Kölner, Kenner der Kabbala und Begründer der Hebräisch- und Griechisch-Studien in Deutschland Johannes Reuchlin. Er war aus Stuttgart geflohen und begab sich 1496 nach Heidelberg und Ladenburg, bewunderte dort vor allem die reiche Bibliothek Dalbergs, nutzte sie und kam mit ihm in engen Kontakt.
Ihm ist nicht zuletzt auch zu verdanken, dass Heidelberg in der Geschichte des neueren deutschen Theaters im Zusammenhang mit der Sodalitas ein prominenter Platz zukommt. Im Heidelberger Wohnsitz des Universitätskanzlers Dalberg an der heutigen Ecke Hauptstraße/Theaterstraße wurde am 31. Januar 1497 von jungen, kaum 15-jährigen Studierenden der Universität im Beisein Dalbergs und zahlreicher Sodales die erste Komödie in Deutschland aufgeführt, die in Metrik, Aufbau, Sprache und nicht zuletzt Qualität an die Tradition der antiken römischen Komödie anknüpft. Sie war ursprünglich Scaenica Progymnasmata betitelt, seit der Verdeutschung durch Hans Sachs wurde sie Henno genannt; sie ist heute bequem zugänglich in der zweisprachigen Ausgabe, die Harry C. Schnur 1971 im reclam-Verlag publizierte.
Im Prolog findet sich eine geraffte Inhaltsangabe:
„Ein Mann findt nämlich seiner Frau verstecktes Geld
Und stiehlts, vertrauts dann einem ungetreuen Knecht.
Der unterschlägts und wird drum vor Gericht gestellt.
Durch List des Advokaten trügt er diesen selbst.“
Zentrale Figur der Komödie ist der pfiffige Knecht Dromo, der nach dem Vorbild der listigen Sklavengestalten der antiken Komödie nicht nur seinen dummen Herrn Henno hinters Licht führt, sondern auch den schurkischen Advokaten, der ihm einen Trick verrät, wie er sich aus der Affäre ziehen kann.
Für das Milieu der Heidelberger Sodalitas ist es zweifelsohne ein Glücksfall, dass sich eine Rede erhalten hat, in der einer der Mitspieler der Erstaufführung vom 31. Januar 1497, Valentin Helfant aus Weißenburg im Elsass, Johann von Dalberg als Inspirator der studia humanitatis an der Universität Heidelberg preist:
„Erlauchter Fürst und Hochwürdiger Herr! Diese Komödie, die wir allein zur Übung unserer Fähigkeiten, und nicht Gewinnes oder Erwerbes halber aufgeführt haben, widmen wir Euch, wie es höchst recht und billig ist. Seid Ihr doch der erste und einzige, der Ihr humanistische Studien und höhere Bildung in die Heidelberger Hochschule gleichsam auf Euren eigenen Schultern hineingetragen habt. Auch verteidigt Ihr sie täglich gegen ungebildete, rohe und neidische Angreifer, so dass es keine Liebhaber der Literatur, keine Muse Germaniens gäbe, die nicht verdientermaßen Euer Lob verkündete und Euer hochadliges Geschlecht mit höchstem Lob bis in den Himmel erhöbe.“
In einer Stelle der Rede, die ich hier ausgelassen habe, spielt Helfant, der später im Elsass für die Reformation wirkte, auf die Academia Platonica an, die sich um Dalberg und Konrad Celtis in Heidelberg gruppierte. Die Lobrede Helfants auf Johann von Dalberg, der die Mitspieler des Henno fürstlich bewirtete, lässt deutlich werden, dass die szenische Aufführung des Henno in Heidelberg in einen größeren kulturpolitischen Zusammenhang gehört, der mir noch zu wenig beachtet worden zu sein scheint. Wenn mehrere Verfasser von Widmungsgedichten zum Henno wie Sebastian Brant oder Jacobus Dracontius, gerade Letzterer ein tätiger Sodale, darauf abheben, dass Reuchlin als erster die antike lateinische Komödie auf deutschem Boden habe wiedererstehen lassen, nutzen sie eine selbstbewusste Denkfigur, die im Kreis um Celtis immer wieder bemüht wurde. Die sodalitas um Johann Dalberg beansprucht nämlich überhaupt, als erste die Wiederbelebung der antiken Dichtung in Deutschland bewirkt zu haben. So feiert sich Konrad Celtis selbst in einer Elegie als Erneuerer der antiken lyrischen und elegischen Dichtung, um der deutschen Jugend ein Beispiel zu geben, und ebenso scheint mir auch die Selbstbezeichnung novus poeta Reuchlins im Prolog des Henno zu verstehen sein: nämlich als Erneuerung der antiken Komödie mit Einschluss der Form und des antiken Versmaßes, nachdem erst kurz zuvor entdeckt worden war, dass die Komödien des Terenz keinesfalls in Prosa verfasst sind, wie man bis dahin geglaubt hatte. Bewunderungswürdig ist übrigens die sichere und elegante Handhabung des jambischen Maßes durch Reuchlin.
Offenbar will die Heidelberger Sodalitas das ganze Spektrum der antiken Dichtung wieder erneuern, und der Henno Reuchlins vertritt dann auch musterhaft die antike Komödie. Sein Wirken in Heidelberg gliedert sich also in das Kulturprogramm der Sodalitas sehr gut ein. Dem entspricht, dass Konrad Celtis in einem Preisgedicht auf Reuchlin in seinen Oden diesen nicht nur als Drei-Sprachen-Wunder, als vir trilinguis feiert, der die drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch gleichermaßen beherrsche, sondern auch als Meister des dramatischen Faches, und zwar der Komödie wie der Tragödie:
Comicas fraudes copiose scribis,
Et sonas doctus Tragicum coturnum,
Primus & nostras celeres iambos
Ducis in oras…
(Komische Betrügereien stellst du in reicher Sprache dar, gelehrt lässt du das Spiel auf dem tragischen Kothurn ertönen, als erster auch bringst du in unsere Gegend schnellfüßige Jamben…).
Die Anspielung auf den Henno ist deutlich, unklar ist, welche Tragödie gemeint sein könnte, da von Reuchlin keine solche bekannt ist – es sei denn, der Sergius wäre angesprochen. Es könnte aber auch sein, dass der Heidelberger Humanistenkreis unter Führung von Celtis damit eine Erwartung an Reuchlin formuliert, als Kenner des antiken Dramas nach dem großen Erfolg des Henno nun auch eine regelrechte antike Tragödie mit dem entsprechen hohen Personal zu schreiben.
Die Heidelberger Academia Platonica versammelte sich nach dem Muster ihrer italienischen Vorbilder um ihre Häupter Dalberg und Celtis wohl zu regelmäßigen zeremoniell ausgestalteten gelehrten Treffen, bei denen Dalberg als Apollo gefeiert wurde, aber neben der humanistischen Gelehrsamkeit auch die weinfrohe Geselligkeit gepflegt wurde. Bei ihr kam es gelegentlich auch zu anzüglichen Scherzen, an denen die Humanisten auch sonst ihren antiken Vorbildern nacheifernd es nicht fehlen ließen. Ob dies freilich mehr als literarische Fingerübungen waren, muss dahingestellt bleiben.
Eine große Gemeinschaftsaktion war eine Reise der Sodales zu dem Mitglied ihrer Gemeinschaft Johannes Trithemius, Abt von Sponheim, und zu – der heute noch existierenden - Bibliothek des großen Kardinals Nicolaus Cusanus in Kues an der Mosel. Trithemius hatte die Ressourcen seines Klosters stark strapaziert, um eine bedeutende humanistische Bibliothek zusammenbringen. Dies trug ihm den entschiedenen Unwillen seiner Mönche ein, so dass Trithemius schließlich resignierte und in dass Würzburger Schottenkloster übersiedelte. Auch bei dieser gut dokumentierten Reise blieb es nicht bei gelehrten Diskursen, man sprach ebenso sehr den Genüssen des Lebens zu.
Bereits Mitte der neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts wurde der Spiritus Rector der Heidelberger Gelehrtengesellschaft Konrad Celtis an die Universität Ingolstadt berufen, wohin er schließlich – wenn auch eher widerwillig – ging. Mit den „Rettich verschlingenden“ Ingolstädtern kam er wohl ebenso wenig zurecht wie mit seinen Studenten, die mit seiner Pflichtauffassung als akademischer Lehrer nicht grundlos sehr unzufrieden waren. Denn ihr Professor Celtis gestattete sich lange Abwesenheitszeiten, um mit seinen Gefährten vornehmlich in Heidelberg zusammen sein zu können. Gleichwohl scheint dieser Weggang die Aktivitäten der rheinischen Gelehrtengemeinschaft nicht wenig beeinträchtigt zu haben, wenn auch durch einen intensiven Briefaustausch das gelehrte Netzwerk der humanistischen Gelehrtengesellschaft bestehen bleiben konnte, wie der umfängliche Codex epistolaris des Celtis in Wien dokumentiert. Ihn hat Hans Rupprich 1934 vorbildlich ediert, aber die meisten der Projekte wurden nicht mehr in Heidelberg zu Ende geführt. Vollends die Berufung von Celtis nach Wien durch Kaiser Maximilian I. und die Gründung des Collegium Poetarum et Mathematicorum haben im neuen Jahrhundert die Energien von Konrad Celtis sehr in Anspruch genommen. Der Tod des Oberhauptes der Sodalitas Johann von Dalberg 1503 brachte die Aktivitäten in Heidelberg zunehmend zum Erliegen, wenn auch ein wenigstens formelles Weiterbestehen der rheinischen Gelehrtengesellschaft noch bis 1513 gesichert ist, da sie in diesem Jahr die Oden des Celtis, der 1508 verstorben war, zum Druck brachte und eine Vita des deutschen Erzhumanisten, wie ihn David Friedrich Strauß genannt hat, anfügte.
Die Heidelberger humanistische Sodalitas litteraria Rhenana mit Johann von Dalberg und Konrad Celtis an der Spitze stellt ohne Zweifel einen frühen Höhepunkt der humanistischen Bewegung in Deutschland dar. Angeregt durch das gemeinsame Bildungserlebnis in Italien, wo sich viele der Akteure aufhielten und sich kennenlernten, versuchten sie, für Deutschland Vieles von dem zu schaffen, ja zu übertreffen, was die italienischen Humanisten für ihre Heimat bereits verwirklicht hatten. Mit dem Auftreten Martin Luthers nicht zuletzt auf dem Wormser Reichstag nahm der Humanismus in Deutschland etwa mit Ulrich von Hutten, Euricius Cordus und Eobanus Hessus eine neue Wendung und trat schließlich in großen Teilen in enge, wenn auch nicht unproblematische Verbindung zur Reformation. Dagegen kehrten die meisten älteren Angehörigen des Kreises um Konrad Celtis wie Jakob Wimpfeling. Johannes Reuchlin oder Willibald Pirckheimer nach anfänglicher Begeisterung für die Sache Martin Luthers schließlich der Reformation den Rücken, weil sie den Untergang der humanistischen Studien befürchteten. In Heidelberg markieren lateinische Poeten wie der Gräzist Jacobus Micyllus oder der bedeutendste deutsche neulateinische Dichter des 16. Jahrhunderts Petrus Lotichius Secundus (1528-1560) aus Schlüchtern in Hessen am Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte einen neuen Höhepunkt humanistischer Dichtung in der Universitätsstadt am Neckar und ihrem „zweigipfligen Musenberg“, um schließlich gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine weitere Blüte mit Autoren wie Paulus Schede-Melissus, Janus Gruter oder Marquard Freher zu erleben. Diese mündete in den Beginn einer neuen, nunmehr deutschsprachigen Dichtung etwa mit Julius Wilhelm Zincgref und Martin Opitz unter reformierten Vorzeichen – eine Entwicklung, die erst der Dreissigjährige Krieg zum Stocken brachte.
Im Rahmen einer Vortragsreihe zum Wormser Reichstag von 1521 nicht über Ulrich von Hutten zu sprechen, wäre vor einhundert oder einhundertfünfzig Jahren ein kaum wieder gutzumachendes Sakrileg gewesen. Denn der fränkische Ritter, Humanist und antirömische Pamphletist gehörte in preußisch-deutschen Kaiserreich – zusammen mit Martin Luther und Albrecht Dürer – zum Triumvirat der hervorragendsten deutschen Helden des frühen 16. Jahrhunderts. Monumentalen Ausdruck fand die Popularität des „Märtyrers der deutschen Freiheit“ und des „Aufweckers der deutschen Nation“ im Hutten-Sickingen-Denkmal der Bildhauer-Familie Cauer am Fuß der Ebernburg bei Bad Kreuznach, dessen Grundstein 1888 anlässlich seines 400. Geburtstags gelegt wurde, und dem Mitte der 1890er Jahre eingeweihten Berliner Reformationsdenkmal von Paul Martin Otto und Robert Toberentz, das Hutten und Sickingen die Beschützerrolle der deutschen Reformation zuwies: Zu Füßen Luthers sitzen – im Gegensatz zu seinen europäischen Vorläufern in Worms – nur deutsche Reformatoren. Und vor einhundert Jahren löste der Versuch des orthodoxen Lutheraners Paul Kalkoff, die Hutten-Legende zu zerstören, eine breite Forschungskontroverse aus, die der Popularität des fränkischen Ritters jedoch kaum Abbruch tat. Zudem ließ die Hypostasierung Huttens zum „Rufer und Mahner deutscher Art“ während des Dritten Reichs seinen Nachruhm in beiden deutschen Staaten nach 1945 schnell verblassen und ihn in Vergessenheit geraten. Wer aber war der am 21. April 1488 als ältester Sohn des Reichsritters Ulrich von Hutten und der Ottilie von Eberstein auf der bei Schlüchtern gelegenen Burg Steckelberg geborene Ritter Ulrich von Hutten?
Ich werde im Folgenden zuerst einen Blick auf seinen wendungsreichen Lebensweg werfen und in einem zweiten Teil seine antirömischen Schriften ebenso analysieren wie seine – und Sickingens – Rolle im Umfeld des Wormser Reichstags.
Hutten war der Erstgeborene und damit präsumtiver Erbe des Familienbesitzes. Dies blieb ihm aber verwehrt, denn seine Eltern gaben den Elfjährigen 1499 in das Benediktiner-Kloster Fulda, um dort eine geistliche Karriere anzustreben. Ob dafür – wie in der Vergangenheit betont – tatsächlich die für den Ritterdienst ungeeigneten schwachen Körperkräfte des Knaben allein verantwortlich waren, ist m. E. unwahrscheinlich. Viel entscheidender waren die Aussichten auf eine Karriere im Orden oder auf eine einträgliche Pfründe, die auch der Familie zugutekommen würde, deren Einkünfte keineswegs üppig waren. Der begabte Novize nahm 1503/04 ein vom Orden finanziertes zweijähriges Studium, das sogenannte „biennium“, an der Universität Erfurt auf, wo er Humanisten wie Crotus Rubeanus, Mutianus Rufus und Eobanus Hessus kennenlernte, für sein weiteres Leben richtungsweisende Begegnungen. Im Sommersemester 1505 studierte er für einige Zeit in Mainz, im Wintersemester in Köln, wo er sich dem Humanisten Rhagius Aesticampianus , dem aus der Niederlausitz stammenden sorbischen Gelehrten Jan Rak, anschloss, dem er an die neugegründete Universität in Frankfurt an der Oder, der nach der Vereinigung Deutschlands wiedergegründeten Viadrina folgte. Dort erwarb er im September 1506 das Bakkalaureat. Der Rückweg ins Kloster war zwar noch nicht endgültig versperrt, aber die Weichen für ein Leben als humanistischer Gelehrter und Dichter waren gestellt und der Bruch mit der Familie schien unabwendbar. Hutten, der in Frankfurt erste Gedichte geschrieben hatte, darunter als bekanntestes ein „Lob der Mark“, setzte seine Studien 1508 in Leipzig fort, wo er sich in einem Bordell mit der in jenen Jahren in Europa grassierenden Syphilis infizierte. In der Folge verliert sich seine Spur, bis er Ende 1509 – wie er selbst schrieb – als „schiffbrüchiger Odysseus“ – an der vorpommerschen Ostseeküste strandete. Hatte er sich im ersten damals weitaus heftigeren Stadium seiner Krankheit „verborgen“? War er gar zur See gefahren? All dies ist bis heute ein ungelöstes Rätsel der Huttenforschung geblieben – und gerade deshalb ein Sujet für manche Erzählung oder manchen Roman. In Greifswald fand der mittellose Bakkalaureus Aufnahme im Haus des Bürgermeisters Lötz, der – vergeblich – hoffte, von den Verwandten des Ritters für seine Gastfreundschaft reich entlohnt zu werden. Hutten brach jedoch, ohne die Kosten seines Aufenthalts erstatten zu können, im Dezember nach Rostock auf. Vor den Stadttoren Greifwalds jedoch lauerten ihm die Knechte des Lötz auf, verprügelten ihn und raubten all seine wenigen Habseligkeiten. In Rostock fand Hutten erneut mildtätige und freigiebige Gönner, hielt sogar an der Universität der Hansestadt einige Vorlesungen, bevor er nach Wien weiterzog – nicht ohne zuvor sein erstes größeres Werk „Querelarum libri duo in Lossius“, die „Lötze-Klagen“, in Druck zu geben. David Friedrich Strauß, der Mitte des 19. Jahrhunderts die grundlegende Bio- und Monographie vorlegte, schrieb, „die Hebamme“ von Huttens Oeuvre sei der Zorn gewesen – und die Lötze-Klagen waren dessen erstgeborene Frucht. In Wien fand Hutten schnell Anschluss an die dortigen Humanisten im Umkreis Kaiser Maximilians I., um in den beiden folgenden Jahren in Pavia und Bologna Jura zu studieren. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, diente er nicht nur vorübergehend in Maximilians Heer, sondern prangerte in harschen politischen Epigrammen die Feinde Maximilians an. 1514 kehrte er ins Reich zurück, wo seine kurmainzischen Gönner Eitelwolf von Stein und Frowin von Hutten ihm die Aussicht eröffneten, in die Dienste des neuen Mainzer Erzbischofs Albrecht von Brandenburg zu treten. Hier traf er zum ersten Mal mit Erasmus von Rotterdam zusammen, der seine frühen Schriften lobte, allen voran „Nemo“ (Der Niemand, 1510) „De arte versificandi“ (Von der Verskunst, 1511) „Ad Maximilianum bello in Venetos euntem Exhortatio“ (Ermahnung an Maximilian zum Venezianischen Krieg, 1512), „Vir Bonus“ (Der Biedermann, 1513), „In Pepercorni vitam Exclamatio“ (Ausruf über des [getauften Juden Johannes] Pfefferkorn Leben, 1514) sowie sein „In laudem Alberti Archepiscopi Panegyricus“ (Lobpreis von Erzbischof Albrecht [von Brandenburg], 1515).
Während seines ersten Italienaufenthalts war die sogenannte Reuchlin-Fehde weiter eskaliert. In ihrem Mittelpunkt stand der bedeutende Humanist Johannes Reuchlin, der sich in einem Gutachten als einziger dagegen ausgesprochen hatte, alle jüdischen Bücher zu verbrennen, wie es der Konvertit Johannes Pfefferkorn (nicht identisch mit dem Vorgenannten) mit Unterstützung der Kölner Dominikaner gefordert hatte. 1513 mit einem Häresie-Prozess überzogen, fand Reuchlin breite Unterstützung der Humanisten, in deren Phalanx sich Hutten einreihte. Zusammen mit Crotus Rubenaus verfasste er die „Epistolae obscurorum virorum“, die „Dunkelmännerbriefe“, in denen beide die ungelehrten Mönche und Priester attackierten und lächerlich machten. Zur Fortsetzung und Vollendung seiner Rechtsstudien begab er sich erneut nach Italien, wo er sich in Rom, Bologna, Ferrara und Venedig aufhielt. Währenddessen hatte der württembergische Herzog Ulrich Hans von Hutten, einen Verwandten Ulrichs, ermordet und damit eine langjährige Fehde ausgelöst, die erst 1519 nach der militärischen Niederlage des Herzogs und dessen Flucht in die Schweiz endete. Die durch eine frühmoderne „Sex-and-Crime -Geschichte“ beschmutzte Familienehre – der Herzog habe Hans von Huttens Ehefrau begehrt und ihm als Ausgleich seine eigene, Sabine von Bayern, angeboten – verteidigte der Humanist in fünf lateinischen Reden („In Vlrichum Vuirtenpergensem orationes V“) und seinem ersten bedeutenden Lukianischen Dialog „Phalarismus“ (1517). 1517 wieder diesseits der Alpen wurde er vor allem wegen seiner zahlreichen Lobgedichte auf Maximilian und dessen Politik in Augsburg zum „Poeta laureatus“ gekrönt. Die Veröffentlichung der ersten Sammlung Lukianischer „Dialogi“ (1520) sowie seiner populärwissenschaftlichen Abhandlung über die „Lustseuche“, die „gallische Krankheit“ oder das „mal frantzos“ sowie die – vermeintlich erfolgreiche – Heilung durch das Guajakholz, „De Guaiaci medicina et morbo Gallico“ (1520), fanden zahlreiche Leser. Vor allem seine Schrift über die Syphilistherapie wurde binnen weniger Jahre in viele europäische Nationalsprachen übersetzt und avancierte zu seiner von den Zeitgenossen meistgelesenen Schrift.
Seine Beiträge zur Reuchlinfehde, der zweite Band der Dunkelmännerbriefe (1515/17) sowie „Triumphus Capnionis“ (Der Triumph Reuchlins, 1515 – gedruckt 1518), seine Herausgabe der Enthüllungen des Laurentius Valla, der als erster die „Konstantinische Schenkung“ als Fälschung entlarvt hatte („De donatione Constantini“, 1519/20), sowie seine vielen Streitschriften gegen die „Romanisten“ oder „Römlinge“ – allen voran der „Vadiscus sive Trias Romana“ („Drei Dinge gibt es in Rom“) – rückten ihn in die erste Reihe der Kritiker des Papsttums. Doch nach dem Auftreten Luthers und einer kurzfristig möglich erscheinenden ‚Koalition‘ sank sein Stern schnell. Es half nichts, dass er nun Deutsch schrieb und seine neulateinischen Streitschriften in wenigen Monaten in deutschen Übersetzungen veröffentlichte. Ob ihn dabei die auf der Ebernburg Sickingens, der „Herberge der Gerechtigkeit“, Zuflucht suchenden späteren Reformatoren Martin Bucer, Kaspar Aquila, Johannes Schwebel und Johannes Oekolampad unterstützten, wird in der neueren Forschung bestritten. An den Erfolg von Luthers bedeutenden Reformationsschriften des Jahres 1519 freilich reichte der seiner deutschen Schriften bei weitem nicht heran. Das im Vorfeld des Wormser Reichstags von 1521 dem Wittenberger von Hutten übermittelte Angebot Sickingens, ihm Schutz und Geleit zu bieten, lehnte dieser ab und die kurz danach propagierte „Pfaffenfehde“ Huttens endete in einem ähnlichen Fiasko wie der vermeintliche „Pfaffenkrieg“ Sickingens gegen das Fürstbistum Trier. Am 7. Mai 1523 starb der südwestdeutsche Condottiere, von einem herabstürzenden Deckenbalken schwer verletzt, auf seiner Burg Nanstein und wenige Monate später erlag Hutten am 29. August 1523 der Syphilis, jener aus der neuen Welt nach Europa eingeschleppten Krankheit, der er – im falschen Glauben geheilt zu sein – eine der ersten Studien gewidmet hatte. Von Erasmus in Basel abgewiesen, von Zwingli in Zürich bereitwillig aufgenommen, fand der Flüchtling seine letzte Ruhestätte auf der Ufenau, einer Insel im Züricher See.
Noch immer aber fordern die Fragen nach dem Verhältnis Huttens und Sickingens zu Luther ebenso wie die nach dem Huttens zu Erasmus als auch und gerade die nach den tatsächlichen Chancen einer von den beiden Rittern ausgehenden „nationalen Vollendung der Reformation“ die Wissenschaft zu neuen Studien heraus. Erwähnt seien nur die Studien Heiko Wulferts „Die Kritik an Papsttum und Kurie bei Ulrich von Hutten“ (Berlin 2009), Arnold Beckers „Ulrich von Huttens polemische Dialoge im Spannungsfeld von Humanismus und Politik“ (Bonn 2013), und der italienischen Erasmusforscherin Silvana Seidel Menchi „Musste Reformation sein. Erasmus von Rotterdam und sein Dialog >Julius exclusus e coelis<“ (Vortrag 2013) sowie die Beiträge von Johannes Schilling „Hutten, Luther und die Reformation“ (2015),[2] Thomas Kaufmann „Sickingen, Hutten, der Ebernburg-Kreis und die reformatorische Bewegung“ (Ebernburg-Hefte 2015) sowie Traudel Himmighöfer und Lenelotte Möller „Huttens Briefe an Luther. Darstellung und kommentierte Übersetzung“ (2015).[3] Zur Frage nach dem Verhältnis Huttens wie Sickingens zu Luther, bleibt zunächst festzuhalten, dass sich die drei Protagonisten nie persönlich begegnet sind: Sie wechselten Briefe und sandten sich in den Jahren 1520 und 1521 auch ihre aktuellen Publikationen zu. Dennoch ist die Quellenbasis für eine differenzierte Analyse mehr als überschaubar. Im Gegensatz zu Hutten, der in seinen Schriften immer wieder auf Luther und dessen Anliegen verwies, nannte Luther Huttens Namen nur an zwei Stellen, zum einen am Ende der Vorrede seiner Schrift „Von der Beicht, ob die der Bapst macht habe zu gepieten“, die er im Juni 1521 dem „gestrengen und vhesten Francisco von Sickingen, meynem beßondernn Herrn und patronn,“ zueignete. Zum anderen schloss er sein Sendschreiben an den Reichsritter Hartmuth von Cronberg 1522 mit den Worten: „Grusset alle unßere fründ ym glawben, her Frantzen und her Ulrichen von Hütten, und wer yhr mehr sind. Gottes gunst sey mit euch. Amen“. Zudem erwähnte er Hutten hier und da in Briefen an Dritte, meist humanistische Weggefährten des Ritters. Aber alle seine Briefe an Hutten sind – wahrscheinlich im Chaos der Pfaffenfehde und der Flucht in die Schweiz – verloren gegangen. Demgegenüber haben sich vier Briefe Huttens an Luther erhalten, weil sie, unmittelbar nachdem sie den Adressaten erreichten, im Druck erschienen, denn Privatbriefe im modernen Verständnis waren sie nicht. Den ersten schrieb Hutten, der 1518 das Auftreten Luthers noch als Mönchsgezänk abgetan und gehofft hatte, seine Gegner würden schon selbst zu ihrem Untergang beitragen, am 4. Juni 1520 von Mainz aus, wo er immer noch in Diensten des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg stand, dessen Schulden ebenso wie der immense Geldbedarf des Papstes den Ablasshandel in der Magdeburger Erzdiözese ja erst forciert hatten. Anlass des Schreibens unter dem Motto „vive libertas“ war die durch Initiative Johannes Ecks in Rom beratene Bannandrohungsbulle, über die Hutten über den kurmainzischen Gesandten bestens informiert war, zumal er fürchtete, selbst darin genannt zu werden. In diesem „stilistisch auf den Theologen zugeschnittenen Brief verband Hutten seine eigenen politischen und religiösen Anliegen mit Luthers reformatorischen Gedanken“. Beide, so formulierte er, wollten die durch den „Nebel der päpstlichen Verordnungen verdeckte Lehre Christi“ wieder ans Licht führen. „Wir wollen die gemeinsame Freiheit gewinnen, wir wollen das lange bedrückte Vaterland befreien.“ Hutten versicherte Luther seiner Solidarität und bot ihm in dessen Namen Sickingens Schutz an. Den zweiten Brief vom 9. Dezember 1520 verfasste Hutten auf der Ebernburg Sickingens, denn in der Zwischenzeit hatte sich seine persönliche Situation verändert: Zum einen war seine Reise nach Brüssel, wo er Erzherzog Ferdinand, den Bruder Kaiser Karls V., für die gemeinsame Sache gewinnen wollte, eklatant gescheitert. Hutten war überstürzt abgereist, nachdem Gerüchte zu ihm gedrungen waren, man trachte nach seinem Leben. Und da in den päpstlichen Instruktionen vom 16. Juli 1520 an die Nuntien Eck und Aleander neben dem Luthers auch sein Name genannt war, verließ er Mainz und begab sich im September 1520 auf die Ebernburg in den Schutz Sickingens. Die Verbrennung der Schriften Luthers in Köln am 12. November 1520 kommentierte er in seiner lateinischen Versdichtung „In Incendium Lutheranum Exclamatio“ (1521), den weiteren Bücherverbrennungen von Löwen und Mainz ließ er die erweiterte deutschsprachige Fassung „Eyn Klag über den Lutherischen Brand zu Mentz“ (1521) folgen. Hatte er seinen ersten Brief noch mit den Worten „Es lebe die Freiheit! Ulrich von Hutten, Ritter, wünscht dem Theologen Martin Luther, Heil“, so lautete die vertraute Anrede im zweiten Brief bereits „Ulrich von Hutten dem niemals besiegten Herold [dem unbesiegbaren Verkünder] des Worts Gottes, Martin Luther, seinem Bruder und innig geliebten Freund, Heil“. In ungeschminkten Worten informierte er ihn über den erschütternden Stand der Dinge: Viele Mitstreiter seien aus Angst zurückgewichen, selbst Sickingen habe zwischenzeitlich geschwankt, sei nun aber fester denn je entschlossen, die Sache Luthers zu verteidigen; zugleich verwies er auf seine aktuellen oder geplanten Schriften über die Bannbulle Papst Leos X. – „Bulla decimi Leonis contra errores Martini Lutheri et sequacium“ (1520), „Bulla vel Bullicida“ in den „Dialogi novi“ (1520) die „Conquestiones“, eingedeutscht „Clag und Vormanung gegen dem (sic!) übermässigen unchristlichen Gewalt des Bapsts zu Rom und der ungeistlichen Geistlichen“ (1520/21) sowie nicht zuletzt der „Anzeig, wie allwegen sich die Römischen Bischöff oder Bäpst gegen den teütschen Kayseren gehalten haben […]“ (1521) – und fragte nach Luthers weiteren Schritten sowie der Gesinnung Friedrichs des Weisen, denn diese sei für alle die wichtig, „die die Hand und die Waffen für diese Sache erheben wollen“, also für Hutten und seine Gesinnungsgenossen.
Für kurze Zeit waren Luther und Hutten sich nahe gekommen – vor allem in den Augen der Kurie und päpstlichen Parteigänger in Deutschland. Davon zeugt Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“, die er Ende Juni 1520 abschloss, und in der er sich auch und gerade an den niederen Adel gewandt hatte. Wenngleich man mit den theologischen Verteidigern Luthers durchaus davon ausgehen kann, dass Hutten kaum verstanden hat, worum es „Bruder Martinus“ ging, und auch die Zeitgenossen nicht überblicken konnten, welche Folgen Luthers Thesen haben sollten, so verbanden sich – vorübergehend – Huttens Ideen in diesem noch breiten Spektrum der frühen Reformation so sehr mit der Luthersache, dass man Ende 1520/Anfang 1521 Hutten und Luther „die ungleichen Brüder“, so Johannes Schilling, „als vereinte Kämpfer gegen Rom und für die evangelische Freiheit deutscher Nation zusammenbringen“ konnte. [4] Sichtbaren Ausdruck fand die Bruderschaft Huttens und Luthers in den Doppelporträts der Flugschriften und Bücher jener Wochen, in denen der „heroische Antiromanismus“ breitenwirksam inszeniert wurde. „Nicht übersehen werden aber darf, dass Huttens Antiklerikalismus, sein beinahe fanatischer Hass gegen Rom und seine Geistlichen und sein leidenschaftlicher Kampf um die Freiheit der deutschen Nation etwas anderes waren als Luthers Theologie, seine Rede von der Rechtfertigung des Gottlosen, seine Verkündigung der freien Gnade Gottes und der Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen“. [5] Luther ging es um die Antwort auf die Frage, wie werde ich der Gnade Gottes teilhaftig, und damit um eine Reform des Glaubens, die je länger, desto mehr sich zur Kritik an der Institution der Kirche und des Papsttums entwickelte, Hutten ging es um die Reichsreform, die Stärkung des Stellung des deutschen Kaisers und damit auch des reichsunmittelbaren niederen Adels, was nicht ohne die Kritik an der Institution der Kirche und des Papsttums zu realisieren war.
Ausgangs- und ständiger Bezugspunkt seines Geschichtsbilds und seines politischen Denkens aber bildete der eng mit der Tacitusrezeption verbundene patriotische Humanismus des Konrad Celtis, den er zunächst im Erfurter Humanistenkreis um Mutianus Rufus, Crotus Rubeanus und vor allem Eoban Hesse kennengelernt und den sein humanistischer Lehrer, der Celtis-Schüler Rhagius Aesticampianus, verstärkt hatte. Dass er auf seinem Weg nach Italien in Wien Halt machte und den Humanistenkreis um Joachim Vadian kennenlernte, rundet dieses Bild ab. Am deutlichsten fanden die damit verbundenen Topoi der barbarischen, aber sittenstrengen, kampfesmutigen und kampfeslustigen Germanen im „Panegyricus“ für Albrecht von Brandenburg Ausdruck, in dem Hutten zugleich die lange Reihe der mittelalterlichen Kaiser von Karl dem Großen, Otto I. oder Friedrich Barbarossa aufmarschieren ließ, die seiner Meinung nach das Papsttum in seine Schranken verwiesen (bei Heinrich IV. fehlt bezeichnenderweise der Gang nach Canossa), aber die Aussaugung des Vaterlandes nicht hätten verhindern können. Programmatisch forderte er nicht nur ein Ende der finanziellen Ausbeutung durch das Papsttum, sondern auch Rom als einzig legitimen Sitz des römisch-deutschen Kaisers. Bis 1516 finden sich in seinen Schriften allerdings keine direkten polemischen Angriffe auf das Papsttum oder gegen die römischen Höflinge, die Kurtisanen; all dies ändert sich in den Jahren 1516 bis 1518 in seinen Invektiven gegen Papst Julius II. Inwieweit hierfür seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in Italien verantwortlich waren bzw. inwieweit die Polemiken von dem handschriftlich im Freundeskreis von Erasmus zirkulierenden Dialog „Julius exclusus“ beeinflusst war, den Hutten wohl 1517 erstmals zu Gesicht bekam, muss dahingestellt bleiben, auch wenn Silvana Seidel Menchi glaubt, für den Wandel vor allem den von Hutten zum Missfallen von Erasmus in Druck gegebenen Dialog verantwortlich machen zu können. Festzuhalten ist, dass seit der 1519 publizierten „Augsburger Sammlung“ seiner Epigramme Hutten immer schärfer gegen den Reichtum und die Verschwendungssucht der Päpste, die würdelose Geschäftemacherei der Päpste mit den Heiligen, den Ablass sowie nicht zuletzt den Machtmissbrauch der Päpste, ihre weltliche Machtpolitik, polemisierte. Das Schwert des Krieges müsse dem Papst genommen werden, dieses dürfe allein der Kaiser führen, neben und über dem keine andere Macht geduldet werden dürfe. Vor allem sein Dialog „Vadiscus – sive Trias Romana“, ein Gespräch des Verfassers mit dem erdichteten Freund Ernhold, und die daraus kompilierte Triadensammlung, die noch vor Luthers bedeutenden Reformationsschriften des Jahres 1519 erschienen, trugen zum Renommee Huttens als schärfstem Kritiker Roms bei. Ebenso wenig übersehen werden darf jedoch, wie schnell der umworbene Reformator sich von seinem Mitstreiter abwandte, da für ihn die Anwendung von Gewalt unter keinen Umständen infrage kam. So blieben auch die beiden während des Wormser Reichstag verfassten Schreiben ohne jede Resonanz, wenngleich Hutten seine vertrauliche Anrede noch einmal steigerte: Am 17. April 1521, dem Tag, an dem Luther in Worms vor den Kaiser und den Reichstag trat, sprach Hutten Martin Luther mit den Worten an „dem Theologen, dem immer unbesiegten Evangelisten, seinem heiligen Freund“ und vier Tage später fasste er die vorausgegangenen Adressen gleichsam zusammen: „Martin Luther, dem Theologen, dem immer unbesiegten (unbesiegbaren) Evangelisten, seinem heiligen Freunde, wünscht Ulrich von Hutten, Ritter, Heil in Christus, unserem Erlöser“. Erneut ermahnte er den Freund, standzuhalten und nicht zu widerrufen und erneut versicherte er ihn seiner Solidarität, ja, er sei sogar bereit, wie er in seinem dritten Brief geschrieben hatte, für die gemeinsame Sache zu sterben: „An mir brauchst Du nicht den geringsten Zweifel zu haben; wenn Du Dir nur selbst treu bleibst. Ich werde Dir bis zum letzten Atemzug angehören“.
Das waren starke Worte! Dass sie, nicht nur von der lutherischen Orthodoxie als bloße Rhetorik abgetan wurden, gründet in Huttens – und Sickingens – Handeln der dem Wormser Reichstag vorausgehenden Wochen. Denn am 5. April waren auf der Ebernburg der kaiserliche Kämmerer Paul von Armstorff, der das Vertrauen Huttens und Sickingens genoss, sowie der Beichtvater Karls V., Johannes Glapion, erschienen und ihnen war es gelungen, Hutten nicht nur zum Stillhalten, sondern auch gegen die Zusage eines Jahressolds von 400 Gulden zum Eintritt in den Dienst des Kaisers zu bewegen. Der diplomatische Coup, der den publizistischen Streiter erst einmal zum Verstummen brachte, hatte jedoch noch eine weitaus größere Brisanz, stimmten die beiden Ritter doch ebenfalls zu, Luthers Auftreten in Worms zu verhindern und ihn stattdessen zu Geheimverhandlungen auf die Ebernburg zu locken. Die heikle Aufgabe, Luther in Oppenheim von der Weiterreise nach Worms abzuhalten, übernahm Martin Bucer, der Luther vor einem Schicksal wie einst Johannes Hus warnte: Gehe er nach Worms, werde er unweigerlich als Ketzer verbrannt. Luther ließ sich nicht aufhalten und zog kurze Zeit später in Worms ein. Erkannte er die Falle, in die Hutten und Sickingen getappt waren, gerade weil sie – in ihrer Selbstüberschätzung – glaubten in Diensten des Kaisers auf dessen Politik Einfluss ausüben zu können? Genaue Belege hierfür fehlen. Fest steht hingegen, dass Hutten – als er die kaiserliche Intrige, deren Opfer er geworden war, endlich erkannte – nicht nur mit großem Aplomb die kaiserlichen Dienste aufkündigte, sondern nun die Zeit für den Pfaffenkrieg gekommen sah. In seinem letzten Brief an Luther schrieb er: „Ich sehe, dass es der Schwerter und der Bögen, der Pfeile und der Geschosse bedarf, um sich dem Rasen des bösen Dämonen entgegenzustellen“. Dieser Brief „ein großer Ruf zur Gewalt“, dessen Originalwortlaut in einer Abschrift Spalatins überliefert wurde, wurde bereits 1521 – nur um die gröbsten Ausfälle gekürzt – gedruckt und erschien in der Wittenberger Ausgabe weiter gereinigt, um Luther nicht in Misskredit zu bringen.
Huttens weiterer Weg war konsequent. Noch im Mai 1521 verließ er die Ebernburg, um auf eigene Faust die Pfaffenfehde zu führen. Die erhoffte Unterstützung Sickingens blieb aus, weil dieser im Auftrag Karls V. einen vergeblichen Feldzug gegen den französischen König Franz I., in dessen Diensten er zuvor zeitweise gestanden hatte, unternahm. Dieser kostete ihn, da Karl V. die Kriegskosten nicht ersetzte, zusammen mit einem Darlehen, das Sickingen Karl gewährt hatte, nahezu 100.000 Gulden. Gerade auf dem Höhepunkt ihres Einflusses war es der kaiserlichen Partei gelungen, die beiden Ritter entscheidend zu schwächen und ihren Ruf zu beschädigen. Dies mag auch eine Erklärung für Huttens lauthals propagierte Pfaffenfehde sein, bei der sich der von der Syphilis schwer gezeichnete Ritter in pathologischen Gewaltexzessen erschöpfte. Erst im Mai 1522 kam es zur Wiederannäherung von Hutten und Sickingen; im September desselben Jahres brach Sickingen zu dem bereits erwähnten Feldzug gegen Kurtrier auf, den er wenige Wochen später abbrechen musste; der geballten Kriegsmacht des Erzbischofs von Trier, des Landgrafen von Hessen und des Kurfürsten der Pfalz waren die Soldaten des pfälzischen Condottiere ebenso wenig gewachsen wie die Mauern seiner Burg Nanstein der Durchschlagskraft der Artillerie der drei Landesherren. Doch selbst wenn Sickingen sein Ziel erreicht hätte, das Erzbistum Trier zu erobern, zu säkularisieren und sich an die Spitze des Kurfürstentums zu stellen, eine Reichsreform hätte diese Usurpation ebenso wenig bewirken können wie die Invektiven und Appelle Huttens sowie der zahlreichen anderen reichsritterlichen Pamphletisten an den jungen habsburgischen Kaiser. Eine Reform des Reiches hätte – und dies ist die augenfällige Parallelität von 16. und 19. Jahrhundert – auch damals nur von oben erfolgen können.
[1] Vortragsfassung meines am 5. August 2021 im Rahmen der Dalberg-Akademie Worms-Herrnsheim gehaltenen Vortrags. Auf detaillierte Anmerkungen wird verzichtet. Zur weiteren Lektüre eignen sich die im Vortrag genannten aktuelleren Publikationen zu Ulrich von Hutten.
[2] Johannes Schilling, Hutten, Luther und die Reformation, in: Ritter! Tod! Teufel? Franz von Sickingen und die Reformation, hg. von Wolfgang Breul, S. 39–48 (Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Mainzer Landesmuseum Mai bis Oktober 2015).
[3] Alle Zitate aus Huttens Briefen werden zitiert nach Traudel Himmighöfer und Lenelotte Möller, Huttens Briefe an Luther. Darstellung und kommentierte Übersetzung, in: Wissensgesellschaft Pfalz. 90 Jahre Pfälzische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, hg. von Peter Diehl, Andreas Imhoff und Lenelotte Möller, Ubstadt-Weiher [u.a.] 2015 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer 116), S. 175-194.
[4] Schilling, Hutten, Luther und die Reformation.
[5] Ebd.
Das Thema „Luther und die Juden“ ist im Rahmen der Reformationsdekade breit diskutiert worden. Margot Käßmann hat von der dunklen Seite Luthers gesprochen, Thomas Kaufmann hat zwei Monographien vorgelegt: „Luthers ‚Judenschriften‘. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung“ 2011 und „Luthers Juden“ 2014. Dabei darf die Monographie von Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden aus dem Jahre 2002 nicht vergessen werden. Kaum ein Referent kam im Zusammenhang des Jubiläumsjahrs 2017 an einer Frage aus dem Publikum dazu vorbei, selbst wenn sein Vortrag einen ganz anderen thematischen Aspekt betraf. Auch in dem Themenheft der EKD zum Jubiläumsjahr 2021 findet sich dazu ein Beitrag.[1] Dabei lag der Fokus natürlich auf Luthers späten Judenschriften, hatte er doch etwa in der Schrift „Wider die Juden und ihre Lügen“ von 1543 (3 Jahre vor seinem Tod) empfohlen, die Synagogen zu zerstören und die Juden zu harter Arbeit zu zwingen, so dass der thüringische Landesbischof Martin Sasse sich legitimiert fühlte, die Reichspogromnacht vom November 1938 als Erfüllung des Vermächtnisses Martin Luthers zu bezeichnen.[2]
Luther hatte sich bereits in frühen Texten judenfeindlich geäußert, sei es in seiner Psalmenvorlesung , sei es in der Römerbriefvorlesung.[3] Daneben gibt es verstreute Äußerungen in seinen Briefen und anderen Texten. So glaubt er die Zustimmung der Bevölkerung zu seinen Ablassthesen bliebe verborgen aus Angst vor den Juden.[4] Solche Anspielungen sind darin begründet, dass Luther die Juden als Beispiel für eine Werkgerechtigkeit sieht. Außerdem zeige der Ablasshandel, dass der Papst geldgierig wie die Juden sei. Hauptsächlich aber stand der Streit um die christologische Auslegung des Alten Testaments im Zentrum der Auseinandersetzung. An den Domen des Mittelalters, auch in Worms, wird die vermeintliche Blindheit des Judentums bei der Lektüre ihrer Heiligen Schrift für das, „was Christum treibet“, durch die allegorische Synagogenfigur mit verbundenen Augen dargestellt. Die bekannteste dieser Figurengruppen ist die am Südportal des Straßburger Münsters. [Bild] Ecclesia und Synagoga, zwei allegorische Frauenfiguren, stehen sich auf gleicher Höhe gegenüber, darüber in der Mitte thronte ursprünglich Salomo als Weltenrichter, wie auf Abbildungen noch zu sehen ist, im Innern des Münsters dann Christus als endzeitlicher Weltenrichter. Die Kirche ist mit den Insignien ihrer Herrschaft, Krönungsmantel, Kreuz, Kelch und Krone dargestellt. Demgegenüber liegen bei der Synagoge der Krönungsmantel und die Krone am Boden, ihre Lanze, ihre Macht, ist gebrochen, die Augen sind verbunden, sie ist blind, die Schriftrolle, in der sie Jesus als den verheißenen Messias erkennen müsste, entgleitet ihrer Hand. Sie kann damit als Blinde ja nichts anfangen. Allerdings bleibt die Kirche der Synagoge freundlich zugewandt, wenn diese auch den Blick senkt und den einladenden Blick der Kirche nicht erwidert. Ikonographisch orientiert sich diese Anordnung gemäß der hochmittelalterlichen Exegese und dem 11. Kapitel des Römerbriefes durchaus in Richtung einer endzeitlichen Vereinigung von Kirche und Synagoge. Entstanden ist diese Figurengruppe um 1230. In dieser Tradition steht Luther. Das ist in seiner bekannten „judenfreundlichen“ Schrift von 1523, „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, nicht anders als in den späteren unerträglich gehässigen Schriften „Wider die Sabbather“ (1538), „Wider die Juden und ihre Lügen“ und „Vom Schem hamphoras“ (1543), von den letzten Worten Davids (1543) und die wenige Tage vor seinem Tod erschienene „Vermahnung wider die Juden“ (1546). Um die Gehässigkeit zu zeigen, seien zwei Inhalte aus der problematischsten und vor allem sprachlich gehässigsten Schrift „Vom Schem Hamphoras“ erwähnt. Darin beschreibt er genüsslich die an der Wittenberger Stadtkirche noch heute zu sehende „Judensau“ und führt die Scharfsinnigkeit des Talmud auf den Genuss der in Silberschalen aufgefangenen Exkremente aus dem geborstenen Darm des erhängten Judas zurück.[5] Auch die polemischeren Töne in der Auseinandersetzung finden wir nicht erst bei Luther. Im Gegenteil: Luther greift die heilsgeschichtliche Rolle, die Paulus und Augustinus dem Judentum gaben und die in der Sicht des späteren Mittelalters weitgehend verloren ging, eher wieder auf. Ein Blick auf die entsprechende Figurengruppe am Südportal des Wormser Domes mag das belegen. [Bild} Hier stehen Kirch und Synagoge nicht auf einer Ebene, vielmehr steht die Synagoge mit ihren verbundenen Augen auf gleicher Höhe und nahe bei der „Frau Welt“, jener schönen Frau, deren Rücken von Ungeziefer zerfressen wird. Ihrer Hand entgleitet keine Schriftrolle, sondern ein Opfertier. So heißt es in einem Domführer von 1966: „Unten links sehen wir die allegorische Figur der Synagoge mit verbundenen Augen, einen (sic!) zerbrochenen Stab, einem Messer und dem ihren Händen entgleitenden Opfertier. Diese deuten das Ende des Alten Testaments und mit ihm der von Gott verworfenen, blutigen Tieropfer an. Schräg darüber steht rechts die Figur der Kirche, der Ecclesia…“ [6] So ist die Skulptur am Wormser Dom deutlich polemischer als die in Straßburg.
Hatte Luther 1523 noch auf Missionserfolge aufgrund seiner neuen „frohen Botschaft“ im Vergleich zu der von den Papisten verfälschten gehofft, wurde er zum erbitterten Gegner der Juden, als die Erfolge ausblieben, wurde misstrauisch gegen taufwillige Juden und schreckte auch vor Aussagen nicht zurück, die schon an den späteren rassischen Antisemitismus erinnern. Während seines zehntägigen Aufenthalts in Worms im April 1521 sollen ihn in seinem Quartier zwei Juden aufgesucht haben, um mit ihm über die Auslegung des Alten Testaments zu disputieren. Sie begegneten Luther ehrerbietig und brachten Geschenke mit. Über Jes. 7,14 („Siehe, eine Jungfrau ist schwanger“) gerieten sie in Streit. Die Juden betonten, das entsprechende mit „Jungfrau“ übersetzte hebräische Wort „alma“ bedeute „junge Frau“, worauf Luther mit weiteren Stellen und Verweis auf das „parthenos“ in der LXX (möglicherweise auch auf das virgo in der Vulgata) seine Auffassung stützte und einen der beiden offenbar zu überzeugen vermochte, der andere blieb jedoch aus Luthers Sicht „verstockt“. So gerieten die beiden Juden in heftigen Streit und wurden unter Gelächter der Anwesenden des Zimmers verwiesen. Relativ ausführlich berichtet der Rabbiner Reinhold Lewin darüber in seiner Dissertationsschrift von 1911.[7] Ob die zuerst von Nikolaus Selnecker 1574 in seiner Historica Lutheri berichtete Episode historisch ist, ist umstritten. Aber auch als Legende nach Luthers Tod ist sie aufschlussreich, dokumentiert sie doch in der relativ zeitnahen Rückschau, dass für Juden Luthers Aufbegehren gegen eine mächtige religiöse Autorität Hoffnungen hervorrief, die sich letztlich nicht erfüllen sollten. So wird Luther gehässiger und radikaler, möglicherweise nicht zuletzt aufgrund eines Bedürfnisses der Sicherung und Festigung der von ihm ausgelösten Bewegung, aufgrund zunehmender Erkrankung, Depression aufgrund des Todes einer Tochter, so auch die Deutung von Thomas Kaufmann.[8] Im Zusammenhang des Wormser Ereignisses ist der Streit um die Übersetzung aus dem Hebräischen interessant. Dass Luther fließend Latein konnte und seine Vulgata im Kopf hatte, versteht sich, dass er mit der LXX besser zurechtkam als mit dem hebräischen Text, ist anzunehmen. [9] Um – dem humanistischen Ideal entsprechend - zu den hebräischen Quellen zu kommen, war man auf Juden bzw. konvertierte Juden angewiesen, die die Sprache beherrschten. Außerdem war man auch von deren Textüberlieferung abhängig, anders als dies beim NT der Fall war, für das Erasmus von Rotterdam ja eine wissenschaftliche Ausgabe besorgt hatte. Die verfügbaren hebräischen Ausgaben waren meist Rabbinerbibeln, die unter Bezug auf die jüdische Auslegungstradition kommentiert waren. Dies alles war Luther höchst verdächtig. So warf er dem großen Hebraisten Sebastian Münster aus Ingelheim vor, zu sehr zu „judentzen“. [10] Solche Vorwürfe finden sich auch gegen Zwingli, Andreas Osiander und anderen. So war es einerseits seitens der Humanisten und Reformatoren erwünscht [11], das Hebräische wohl als Sprache des AT zu erlernen, andererseits erweckten Hebräischkenntnisse Verdacht. Hans Denck und Ludwig Hätzer, die 1527 in Worms eine Prophetenübersetzung aus dem Hebräischen vorgelegt haben, in der sie ihre Übersetzungsentscheidung auch zum Teil mit Bezug auf jüdische Auslegungstradition begründet haben, attestiert Luther im Sendbrief vom Dolmetschen hohe Qualität, verwirft die Übersetzung aber, da jüdische Hilfe in Anspruch genommen worden sei. Der in Wittenberg auf Melanchthons Empfehlung angestellte Hebräischlehrer Johannes Böschenstein, der die Sprache bei Juden gelernt hatte, musste sich stets mit dem Vorwurf auseinandersetzen, getaufter Jude zu sein. Als er wegen schlechter Bezahlung Wittenberg verließ, rief Luther ihm hinterher, der Form nach getauft, in Wahrheit aber Jude geblieben zu sein.[12] Letzten Endes blieb auch die Zuwendung zur hebräischen Sprache und das humanistische Interesse Teil intensiver Missionsbemühungen. Luther wollte den Juden mit ihrer eigenen Sprache beikommen.[13]
Gleichwohl zeigt schon die Überlieferung vom Besuch zweier Juden in Luthers Quartier in Worms so wie auch Josel von Rosheims vergeblicher Versuch, für die Abwendung der Vertreibung der Juden aus Kursachsen 1536 Luther als Fürsprecher zu gewinnen, dass man jüdischerseits sowohl in seiner Zuwendung zur ursprünglichen Quelle der Heiligen Schrift als auch in seinem individuellen Aufbegehren gegen die kirchliche Autorität vergeblich Hoffnung setzte.[14]
Umso erstaunlicher sind jüdische Stimmen zu Luther, die ihn dennoch für Freiheit und Toleranz im Sinne der Aufklärung in Anspruch nehmen und die wohl auch an seinen Auftritt in Worms anknüpfen. So schreibt der jüdische Buchhändler und Publizist Saul Ascher (1767-1822) 1817, im Jahr des dreihundertsten Jubiläums des Thesenanschlags: „Luther war ein großer Mann!, denn er wagte es , in dem Zeitalter der Hierarchie, mit der Aufopferung seines zeitlichen Heils, für die Rechte der Vernunft und die Freiheit des Glaubens den ersten Keim zu verpflanzen in den Geist und das Herz eines bedeutenden Kreises der Menschheit.“ [15] Der Zweck Luthers und des durch ihn bewirkten Protestantismus sei dahin gegangen, das Christentum mit der Vernunft zu versöhnen „und die Wahrheit geltend zu machen: daß der Mensch nicht allein zum Glauben an die Unfehlbarkeit der Kirche und ihrer Stellvertreter gebunden sei, das heißt also, zu erhärten, daß die Vernunft auch ein Wort beim Glauben mitzusprechen hat und daß in dem vor Luther bestandenen Organismus des Glaubens nicht die einzig seligmachende Religion begriffen sei, das heißt wieder, daß die Christusreligion eine verschiedene Form anzunehmen vermag. Luther hat daher durch sein Verfahren der Vernunft ihr Recht verliehen und die Freiheit des Glaubens proklamiert. Er hat es gewagt, gegen den Papst und Hierarchie zu behaupten, daß der Glaube der Vernunft untertan sei und daß jeder Glaube, den die Vernunft billigt, erst ein wahrer Glaube zu nennen wäre.“ [16] Studenten hatten auf der Wartburgfeier Aschers satirische Schrift „Die Germanomanie“ (erschienen 1815) öffentlich verbrannt und Luther hier bereits für eine Identifikation von Protestantismus und „Deutschtum“ in Anspruch genommen, wogegen sich Ascher in seiner „Wartburgfeier“ wehrt und sich mit den Argumenten der Gegner auseinandersetzt. Er nimmt Luther unverkennbar als Wegbereiter der Aufklärung in Anspruch, wobei dessen Auftritt auf dem Reichstag 1521 in Worms mit Sicherheit eine entscheidende Rolle spielt. Hier verweigert Luther den Widerruf letztendlich unter Berufung auf sein an Gottes Wort gebundenes Gewissen, auch – so Luther – könne er nicht widerrufen, wenn er nicht durch die Schrift oder klare Gründe (ergo die Vernunft) widerlegt würde. Luther so vorrangig als Wegbereiter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und für die Legitimation der eigenen Religion in Anspruch zu nehmen wird dem Reformator wenig gerecht, der in späteren Zusammenhängen von der „Hure Vernunft“ gesprochen hat und wohl niemals, besonders in theologischen Fragen, den Glauben der Vernunft untergeordnet hätte, wohl aber im Bereich des weltlichen Regiments auf die Vernunft gesetzt hat. Dass er den Absolutheitsanspruch der christlichen Religion nicht aufgegeben hat und insofern für Toleranz nicht in Anspruch genommen werden kann, davon zeugen eben zum Beispiel seine „Judenschriften“ , die freundliche von 1523 bis zu den unerträglichen von 1543, letztere natürlich besonders.[17] Auch seine gegen Erasmus von Rotterdam gerichtete Schrift „de servo arbitrio“ (von der Unfreiheit des Willens) ist kaum geeignet ihn etwa mit dem optimistischen Menschenbild der Aufklärung oder auch der jüdischen Philosophie zu identifizieren. [18] Und doch hat er, besonders mit seinem Auftritt in Worms, Impulse in eine Richtung gegeben, die jüdische Aufklärer wie Saul Ascher gerne aufnahmen und für eine Reform des Judentums nutzen wollten. Bereits 1802 schreibt Ascher in seinem Werk „Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolution“, einer geschichtstheologischen philosophischen Abhandlung, auf dem Weg zu einer vollkommenen Gesellschaft durch einen ständigen Fortschritt der Kultur hätten Luther und Calvin Luther die Regeln vorgegeben.[19]
Im Jahre 1841 veröffentlicht der Rabbiner, Anhänger des Reformjudentums und spätere Ehrenbürger Offenbachs Salomon Formstecher (1808-1889) sein philosophisches Hauptwerk „Die Religion des Geistes“. Dieser religionsphilosophische Entwurf des Autors ist der bekannten Abhandlung „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ von Gotthold Ephraim Lessing ähnlich. Unter Bezug auf die idealistische Philosophie besonders Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, aber auch Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Johann Gottlieb Fichtes beschreibt Formstecher in seinem historischen Entwurf das Judentum als „Religion des Geistes“ und somit die höchste Entwicklungsstufe des sich vervollkommnenden religiösen Subjekts, zu dem Christentum und Islam als Entwicklungsstufen hinführen, wobei das Christentum mehr der Erziehung der geistigeren Völker des Nordens, der Islam der der sinnlich ungezügelteren des Süden diene.[20] Formstecher nennt das Judentum „die Manifestation des geistigen Individuallebens“[21]. Nach Formstecher „zeigt die ganze Dogmengeschichte den Kampf zwischen dem heidnischen und dem jüdischen Elemente und den Sieg des ersteren über das letztere. Die Reformation, welche den Anfang des Rückschreitens des Christentums aus dem Heidenthume zum Judenthume bezeichnet, setzte sich zwar zunächst die Aufgabe: das Fundament der Hierarchie zu untergraben, doch zeigte sie durch die Begründung eines Protestantismus: daß sie unbewußt einem umfassenderen Ziele entgegenstrebte und daß es in ihrem Geiste lag: das durch Concilien aufgeführte kirchliche Lehrgebäude nach und nach abzutragen, das Wesen des Christenthums in den Grundlehren des N.T. selbst nachzuweisen und selbst in diesem zwischen relativen und absoluten Wahrheiten zu scheiden und ein Christenthum aufzustellen, wie es in den absoluten Wahrheiten des prophetischen Judenthums sich befindet. Die wahre Aufgabe des Protestantismus wird in der Kirche der Gegenwart nur von der rationalistisch-prophetischen Theologie wahrhaft erfaßt und gelöst; denn die methodistische, oder sogenannte evangelische Theologie heiligt den Buchstaben des N.T., ohne in ihm zwischen absoluten und localen und temporellen Lehren zu unterscheiden; die kirchlich-symbolische erhebt die die Zeittheologie der symbolischen Bücher zur stabilen, ewig abgeschlossenen, somit absoluten Lehre, und die speculativ-pantheistische (das System Schleiermacher’s, Nitsch’s (sic!), Steffen’s, Marheinecke’s u.a. gründet auf die Philosophie Schellings und Hegel’s) glaubt die Aufgabe des gegenwärtigen Christenthums noch immer darin zu finden: seine Lehre mit dem heidnischen Philosopheme ausgleichen zu müssen.“[22]
Das bewusst in dieser Ausführlichkeit wiedergegebene Zitat eines im Vergleich zu Hermann Cohen etwa weniger bekannten jüdischen Religionsphilosophen zeigt in einer eigenwilligen, jedoch interessanten Konstruktion, dass die Reformation als ein Meilenstein auf dem Weg zu einer Vergeistigung der Religion gesehen wird, auch mit prophetischer Theologie assoziiert wird, mithin auch einen deutlich ethischen Charakter einnimmt. Interessant ist auch die Auseinandersetzung mit der modernen Theologie und Philosophie des 19. Jahrhunderts und ihre Abgrenzung gegen starren Dogmatismus, wobei die Stufe des Geistes, das Judentum, noch nicht erreicht ist und Kompromisse erforderlich bleiben.[23]
Dass dies alles trotz der späten Hetzschriften Luthers möglich war, ist erstaunlich.
Indes, die zitierten Lutherschriften fanden in der frühen Zeit jüdischer Aufklärung auch wenig Beachtung. Die Judenschriften waren auch kaum bekannt [24], die spezifisch theologischen Schriften Luthers haben jüdische Rezipienten wenig interessiert. Saul Ascher und Salomon Formstecher bleiben nicht die einzigen Persönlichkeiten eines sich reformierenden und durch Beiträge zum kulturellen Leben sich emanzipierenden Judentums, die sich positiv zu Luther bzw. der Reformation äußern. So nehmen Juden auch an den Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts teil, zumindest bis zum 400. Geburtstag des Reformators im Jahre 1883, anlässlich dessen im zweiten deutschen Kaiserreich seine nationale Vereinnahmung - begleitet auch vermehrt von antisemitischen Tönen - überhandnimmt. Dorothea Wendebourg zitiert in ihrem Aufsatz zum Luthergedenken im 19. Jahrhundert einen Bericht über eine jüdische Beteiligung beim Festumzug zum 400. Jubiläum der Confessio Augustana 1830 in Leipzig: „Sr. Hochwürden, Herr Superintendent Prof. Dr. Großmann hatte […] es so geordnet, daß die Vertreter der verschiedenen Religionsbekenntnisse nach der Folge deren geschichtlicher Entstehung auf einander folgten, und so walleten in brüderlichem, geistigem Frieden Alle dahin: zwei Rabbi der Israeliten mit der aufgeschlagenen Thorah voran, ihm [!] folgten der Archimandrit der griechischen und die Patres der hiesigen katholischen Kirche; sodann kamen die Geistlichen der evangelisch-protestantischen Kirche, voran der Diakonus der Nikolaikirche, Herr Dr. Rüdel; mit dem auf einem kostbaren weißseidenen Kissen stehenden güldenen Kelche, und die Pastoren der reformierten Kirche.“[25] Kirchengeschichtlich interessant daran ist einmal die klare historische Orientierung, sowohl im Christentum als auch im Judentum ein Charakteristikum des der Aufklärung folgenden frühen 19. Jahrhunderts, zum anderen die Bezeichnung der beiden evangelischen Teilnehmenden als evangelisch-protestantisch und reformiert. Nicht gesondert erwähnt nach der preußischen Union von 1817 sind die Lutheraner. Zu nennen wären neben Saul Ascher (und Salomon Formstecher) etwa Sigismund Stern, der die Reformatoren allgemein als Verfechter von Humanität und Denkfreiheit feiert, Heinrich Heine, der Luther mit Moses Mendelssohn vergleicht, der eine habe den jüdischen, der andere den christlichen Katholizismus gestürzt, beide durch Verwerfung der Tradition. Dass ein solches Urteil wohl kaum haltbar ist, liegt auf der Hand. Zu erwähnen auch, dass Sigismund Stern Luther trotz seiner Kenntnis der späten Judenschriften für seine „Losreißung von der Fessel des Glaubenszwangs“ lobt. Dem stehen die kritischen Stimmen eines Abraham Geiger oder Heinrich Graetz gegenüber, die auch auf die polemischen Judenschriften allgemein, Geiger sogar eher desinteressiert, eingehen. Aber vor allem stoßen sie sich an seiner Theologie, die der des Judentums unterlegen sei, Graetz versteigt sich gar zu der Behauptung, Luther sei monastisch beschränkt und nicht sonderlich intelligent. [26] Ein letztes Beispiel positiver jüdischer Lutherwürdigung mag mit Hermann Cohen, dem jüdischen Philosophen und Neukantianer gegeben werden. 1915 schreibt er: „Mit der Reformation tritt der deutsche Geist in den Mittelpunkt der Weltgeschichte. … Unter Berufung auf Albrecht Ritschls Wort, die Reformation habe erst begonnen, führt Cohen weiter aus: „Für geschichtlich-religiöses Denken muß es unzweifelhaft sein, daß der geschichtliche Geist des Protestantismus unabhängig ist von dem Verlaufe der Reformation in Wittenberg, geschweige denn von seinen unmittelbaren Fortsetzungen. Der Jude, wie der Katholik, muß mit der geschichtlichen Einsicht und Unbefangenheit sich durchringen, daß mit der Tendenz der Reformation – und diese allein ist entscheidend für ihren geschichtlichen Begriff – in alles religiöse Denken und Tun gleichsam der Lichtstrahl der Idee, und zwar der Idee, als Hypothese, in das religiöse Gewissen einfällt. Nicht die Kirche mit ihren Heilswerken, nicht der Priester, sondern allein die eigene Arbeit des Gewissens muß das religiöse Denken, beides, belasten und befreien.“[27] Er thematisiert im Weiteren Luther als Wegbereiter zu Kant und zum Idealismus. Luther habe „die providentielle Richtung des deutschen Geistes in diejenigen Bahnen gelenkt …, welche die späteren deutschen Klassiker zum Ziele des deutschen Humanismus geführt haben.“[28] Dabei spielt für Cohen der Begriff der Rechtfertigung eine zentrale Rolle: „Die Rechenschaft wird als Rechtfertigung zum Schlagwort der Reformation. Nur von der Rechtfertigung, die der Mensch selbst von seinem Gewissen fordert, wird erst die Wirkung der Heilstatsachen abhängig gemacht. Und diese Rechenschaft wird in doppeltem Sinne dem Gewissen auferlegt: als die Arbeit, die das Gewissen zu leisten hat, und daraufhin erst als die Erlösung, welche ihm zu Teil wird.“[29] Charakteristisch für den Neukantianer ist die Abstraktion vom historischen Ereignis, auch von der Berufung Luthers auf das Gewissen in Worms, und die Vertiefung in die allgemeine philosophische Begrifflichkeit. Insofern ist auch für Cohen die von Luthers Auftritt in Worms ausgehende religiöse Individualisierung ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur „Religion der Vernunft.“ [30]
Zu den späten Judenschriften äußert sich der Philosoph hier nicht. Dass sie zu dem Zeitpunkt bekannt waren, zeigt nicht zuletzt die bereits zitierte 1911 erschienene Monographie des jüdischen Gelehrten Reinhold Lewin, die im Übrigen recht ausführlich die erwähnte– historisch vielfach bezweifelte - Begegnung von Luther mit Juden bei seinem Aufenthalt in Worms schildert. Er schreibt am Ende des Werkes: „Die Saat des Judenhasses, die er [Luther] darin [in seinen Schriften von 1543] ausstreut, schießt zwar zu seinen Lebzeiten nur verkümmert empor. Sie geht aber nicht spurlos verloren, sondern wirkt noch lange durch die Jahrhunderte fort; wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen.“[31] Lewin, seine Frau und seine beiden Kinder wurden in Auschwitz ermordet.
Dass Luther mit seinen späten Judenschriften wie die judenfeindliche Tradition des Christentums bis in die Moderne hinein einen schlimmen Einfluss gewinnen, hatten wir an Martin Sasse gesehen und sollen auch noch drei Bilder aus dem „Stürmer“ zeigen.
[1] Peter von der Osten-Sacken, Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002; Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2011; Ders., Luthers Juden, Stuttgart 2014; Ulrich Oelschläger, Perspektivwechsel: Die Juden und Luther. „Luther war ein großer Mann“, in: Gewissen befreien. Haltung zeigen. Gott vertrauen. Luther vor dem Wormser Reichstag. Das Themenheft zum 500. Jubiläum*1521-2021, hg. von der EKD, Hannover 2021, S.26f; Ders., Martin Luthers dunkle Seite. Der Reformator und seine verhängnisvollen Hetzschriften gegen die Juden, in: Wormser Zeitung vom 10.04.2021, Sonderbeilage zum Lutherjubiläum, S.21.
[2] Seine Stellungnahme vom 12.11.1938 zur Pogromnacht vom 9./10.11.1938 und das Vorwort zu seiner Schrift: „Martin Luther über die Juden: „Weg mit ihnen!“, das darin gipfelt, einen Bezug zwischen dem Datum der Pogromnacht und dem Geburtstag Luthers herzustellen und die Brandstiftung als Vermächtnis des Reformators darzustellen, ist veröffentlicht bei Oliver Arnhold, „Entjudung“ – Kirche am Abgrund. Dien Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928-1939 und das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“1939-1945 (SKI 25/1), Berlin 2010, S. 411 u. 414f.
[3] WA 55/1,2-4; s. dazu von der Osten-Sacken, Luther und die Juden, S. 66-74; zum Römerbrief WA 56, 1-154
[4] WA Br. 1, S. 152, 15-17; vgl. Thomas Kaufmann, Die Mitte der Reformation (Beiträge zur historischen Theologie 187), Tübingen 2019, S.127 u. 474; s. auch Ulrich Oelschläger, Luther in Worms. Der Reichstag im April 1521, Worms 2020, S. 31.
[5] WA 53, 636, 32-637,5.
[6] Der Dom zu Worms, Wegweiser und Deutung, hg. vom Propsteipfarramt Dom St. Peter, Worms 196611
[7] Reinhold Lewin, Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters, Berlin 1911, S. 15-25; Selneckers Schrift erschien 1576 auch in deutscher Sprache: N.S., Historica Oratio. Vom Leben und Wandel des Ehrwirdigen Herrn / und thewren Mannes Gotte / D, Martini Lutheri. Auch von einhelliger und bestendiger Gerechtigkeit Herrn Lutheri und Philippi. Gehalten in der Universitet zu Leipzig. 1576
[8] Kaufmann, Luthers Juden, S. 110
[9] S. Kaufmann, Luthers Judenschriften, S. 9 u. 38
[10] WATr 5, Nr. 5521, S. 212, 15-17; vgl. Kaufmann, Luthers Judenschriften, S.97 (Der ganze Abschnitt, S. 96-110 ist in dem Zusammenhang interessant)
[11] S. auch Melanie Lange, Ein Meilenstein der Hebraistik. Der „Sefer ha-Bachur“ Elia Levitas in Sebastian Münsters Übersetzung und Edition (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 62), Leipzig 2018, S. 41
[12] Siehe zu dem ganzen Komplex: Ulrich Oelschläger, Die Wormser Propheten von 1527. Eine vorlutherische Teilübersetzung der Bibel, in: Ebernburghefte 42 (2008), S. 19-50, bes. S.36-47; Ludwig Geiger, Das Studium der Hebräischen Sprach in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Breslau 1870, S. 1ff u. S.41-55; Melanie Lange, Ein Meilenstein der Hebraistik, S. 33-39; zu den Bibelausgaben: Konrad Schmid u. Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München 2019, S. 44: Schmid legt dar, dass moderne Bibelübersetzungen bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein auf den Text der von Jakob ben Chajim vorbereiteten und bei Daniel Bomberg in Venedig 1524-25 gedruckten 2. Rabbinerbibel angewiesen gewesen seien.
[13] Lange, a.a.O., S.41.
[14] Von der Osten Sacken, a.a.O. , S. 116-118;Selma Stern, Josel von Rosheim, Stuttgart 1959, S. 126f.
[15] Saul Ascher, Die Wartburgfeier. Mit Hinsicht auf Deutschlands religiöse und politische Stimmung, in: Saul Ascher, 4 Flugschriften, Berlin 1991, S. 233-276, Zitat: S. 237. Der Text ist in dieser modernen Ausgabe des Aufbau-Verlages maßvoll sprachlich modernisiert. Die Originalausgabe ist digital verfügbar: https:// www.digitale: sammlungen. De/de/view/bsb10019267?page=,1.
[16] Ebenda, S. 236.
[17] Gemeint sind die Schriften „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ von 1523, die durch eine freundliche Behandlung der Juden Missionserfolge erzielen will, und die beiden sehr polemischen Schriften von 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“ und vom „Vom Schem hamphoras und vom Geschlecht Christi“ und die drei Tage vor seinem Tod (15.02.1546) erschienene „Vermahnung wider die Juden“.
[18] Darauf macht ein entschiedener Kirchenkritiker aus Gießen in einem sehr kritischen Leserbrief zu den Lutherfeierlichkeiten in Worms vom 26.04.2021 aufmerksam, indem er Erasmus von Rotterdam Luther posotiv gegenüberstellt. (Wormser Zeitung vom 26.04.2021, S.12.
[19] Renate Best, Fortschritt und Kultur. Saul Aschers Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen (1802) u. Saul Ascher, Ideen (Text), in: Renate Best, Saul Ascher. Ausgewählte Werke (Deutsch-jüdische Autoren des 19.Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft), Köln, Weimar, Wien 2010, S. 183-275, bes. S.183.245 u.247.
[20] Salomon Formstecher, Die Religion des Geistes, eine wissenschaftliche Darstellung des Judentums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit, Frankfurt 1841.
[21] Ebenda, S. 129
[22] Ebenda, S. 387f.
[23] Vgl. dazu: Immanuel Kant, Die Religion in den Grnzen der bloßen Vernunft (1794), in: Kant, Werke, hg von Wilhelm Weischedel, Bd.7, Darmstadt 1981, S.649ff Kant wertet dabei das Judentum als System bloß statutarischer Gesetze ab, weist jedoch insgesamt auf die Rolle des Protestantismus für die geistigere Entwicklung der Religion hin, vgl. besonders S. 830ff;vgl. auch Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Hamburg 2008, 6. Rede, S. 93ff; Hegel bezeichnet die Reformation als „die alles verklärende Sonne“, die das Äußerliche aus der Religion eliminiert : Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke 12), Frankfurt 1970, S. 491ff, Ihm folgend Samuel Hirsch, Die Religionsphilosophie der Juden, Leipzig 1842, S. 786ff; Hirsch stellt den geistigeren Ansatz des Protestantismus gegenüber dem katholischen heraus, vermittelt jedoch wegen des „Rückfalls“ des Reformators in katholisches Denken kein so positives Lutherbild. Die Philosophie der Aufklärung und des deutschen Idealismus beeinflusst die jüdischen Denker nachhaltig.
[24] So Dorothea Wendebourg, Jüdisches Luthergedenken im 19. Jahrhundert, in: Mazel tov. Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Christentum und Judentum. Festschrift anlässlich des 50. Geburtstages des Instituts Kirche und Judentum [Studien zu Kirche und Israel. Neue Folge Bd.1], Leipzig 2012, S. 195-213, S. 205, unter Verweis auf Johannes Wallmann, The Reception of Luther‘s Writings on the Jews from the Reformation to the End of the 19th Century. Kontrovers zu Wallmann zeigt Volker Leppin auf, dass die Judenschriften verfügbar waren (Volker Leppin, Luthers Judenschriften im Spiegel der Editionen bis 1933, in: Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19.und 20. Jahrhundert, hg. von Harry Oelke u.a. [Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B, 64], Göttingen 2016, S. 19-43). Damit widerlegt er jedoch kaum Wallmanns These, dass sie kaum bekannt waren. Auch Micha Brumlik betont im Unterschied zu Wallmann und Wendebourg, sie seien bekannt gewesen (Luther und die Juden - eine politologische Betrachtung, in epd-Dokumentation 39 [2015], S. 59-68, zur Bekanntheit der Judenschriften S. 66). Dem ist entgegenzuhalten, dass die Schriften auch dort, wo sie Erwähnung finden, eine positive Würdigung des Reformators durch jüdische Autoren nicht ausschließen. Vgl. auch: Christian Wiese, Deutsch-jüdische Lutherlektüren vor der Shoah: Eine tragische Liebesgeschichte, in: epd – Dokumentation 39, S.42- 58
[25] Wendebourg, Jüdisches Luthergedenken, S. 195f. Wendebourg zitiert hier Johann Friedrich Glück, Beschreibung der Feierlichkeiten, welche am dritten Jubelfeste der Augsburger Confession den 25., 26. und 27. Juni 1830 im Königreich Sachsen stattgefunden haben …, Leipzig 1830, S. 466f.
[26] Wendebourg, Jüdisches Luthergedenken, S. 204-207.
[27] Hermann Cohen, Deutschtum und Judentum, Gießen 19162, S. 9.
[28] Ders., Zu Martin Luthers Gedenken, in: Neue Jüdische Monatshefte, II. Jahrgang, Heft 2 v. 25. Oktober 1917, S. 45- 49, hier S. 45.
[29] Cohen, Deutschtum, S. 9
[30] S. Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Frankfurt 19192
[31] Reinhold Lewin, a.a.O., S. 110.
Reuchlin als Begleitfigur des Reformationsdenkmals in Worms (Abb.1)
Sie werden es kennen, das Reformationsdenkmal in Worms. Dieses vielfigurige Denkmal wurde 1868 von einem lokalen Denkmalbauverein bei dem Dresdener Bildhauer Ernst Rietschel in Auftrag gegeben, zur Erinnerung an Luthers berühmten Auftritt auf dem Reichstag in Worms (1521). Erhöht an zentraler Stelle wird uns dem Anliegen der Denkmalsetzung entsprechend die protestantische Sichtweise präsentiert: das Standbild Martin Luthers als Vaterfigur der Reformation und Verkörperung des Selbstbewusstseins der deutschen Nation. Die ringsum arrangierten Begleitfiguren sollten als „Vorläufer der Reformation“ verstanden werden: Girolamo Savonarola, Johann Hus, John Wycliff, Petrus Waldus und Johannes Reuchlin. Auch sie waren wie Luther mit dem Papst in Konflikt geraten.
Von noch mehr Figuren bevölkert präsentierte sich das monumentale Lutherdenkmal in Berlin, das 27 Jahre nach Worms in der Reichshauptstadt an zentraler Stelle vor der Marienkirche aufgestellt wurde, entworfen von den Bildhauern Paul Otto und Robert Toberentz. Auch dort gab es einen Reuchlin. Aus den Kriegstrümmern geborgen und noch zu DDR-Zeiten neu aufgestellt, verblieb von diesem Denkmal einzig die überragende Figur Luthers.
In Pforzheim, der Geburtsstadt Reuchlins, enthüllte man erst ein Jahrhundert später, genauer gesagt im Jahr 1995 ein eigenes Reuchlin-Denkmal neben der Schloßkirche. Dabei handelt es sich um einen Zweitguss aus der Originalform des Wormser Reuchlin-Standbilds. Schon 1924 allerdings wurde ein dem „größten Sohn der Stadt“ gewidmetes Museum eingeweiht, dazu später mehr.
Ein zeitgenössisches Porträtbild von Reuchlin ist nicht überliefert, wenn man absieht von einem noch zu seinen Lebzeiten geschaffenen Holzschnitt, auf dem seine Person im groben Seitenprofil in Erscheinung tritt. Doch dieser Holzschnitt wurde erst um 1920 von der Forschung wiederentdeckt. Bis dahin hat die Nachwelt die Lücke zu füllen versucht und einen bunten Strauß angeblicher Bildnisse geschaffen. So orientierte sich der Dresdener Bildhauer Ernst Rietschel als Vorbild für seine Wormser Reuchlinfigur offenkundig am Standbild des Erasmus, das 1621 in der Stadt Rotterdam als erstes Bronzestandbild für einen Menschen aus den Bürgertum in den Niederlanden entstand.
„Phönix der Gelehrsamkeit“: Stimmen zu Reuchlin
Wer bitte war dieser Johannes Reuchlin? Die überwältigende Mehrzahl der Deutschen hat von ihm noch nie etwas gehört. In den Schul- und Geschichtsbüchern blieb er ein blinder Fleck.
Das war einmal anders. Im Buch „Deutscher Helden und berühmter Männer“ ließ Heinrich Pantaleon im Jahre 1566 einen Holzschnitt des Malers Hans Holbein abdrucken, der fälschlich als Reuchlin-Porträt ausgegeben wurde und weite Verbreitung fand. Josel von Rosheim, ein Zeitgenosse Reuchlins, Rabbiner und Sprecher der deutschen Juden, bezeichnete ihn mit Hochachtung als einen „Weisen der Völker“, durch den der Herr Israels ein Wunder im Wunder bewirkt habe. Erasmus von Rotterdam in Basel rühmte ihn als „Phönix der Gelehrsamkeit“ und wollte den Namen seines Freundes zum dauernden Andenken in den Heiligenkalender eingetragen wissen. Philipp Melanchthon in Wittenberg würdigte mit einer Rede, die er drucken ließ, Reuchlins Lebensgeschichte und seinen Beitrag zum Verständnis der Bibel im Urtext. „Zu seiner Zeit ein Wunderzeichen!“, schwärmte zwei Jahrhunderte später Johann Wolfgang von Goethe in Weimar, und Johann Gottfried Herder, Pfarrer der dortigen evangelischen Stadtkirche, nannte ihn einen „Vater neuer Zeit“.
Reuchlins Hebräische Sprachlehre (1506) (Abb.2)
Johannes Reuchlin, Sprachlehre des Hebräischen (lat. »de rudimentis hebraicis«), gedruckt von Thomas Anshelm in Pforzheim 1506 (Stadtarchiv Pforzheim, Treu 36 414). – Auf rechten Seite als Titelblatt das Wappen der Familie Reuchlin: Oben ein Mühlrad als Anspielung auf den Familiennamen Müller, unten ein Räucheraltar (lat. Ara) in Verbindung mit dem Humanistennamen »Capnion« (griech. »Räuchlein«) als Hinweis auf Johannes Reuchlins lebenslange Passion, die hebräische Bibel im Urtext verstehen zu lernen und eine Renaissance (Wiedergeburt) der jüdischen Kultur zu fördern.
Abb.3: Stuttgart, Reuchlins Grabmonument von 1501 in der Leonhardskirche (Abguss im Museum Johannes Reuchlin, Foto: C. Timm)
„Ein Denkmal schuf ich mir, dauerhafter als Erz“, schrieb Reuchlin selbst im Vorwort über seine Sprachlehre des Hebräischen, die er im Jahr 1506 auf eigene Kosten publizierte: „Immer wieder habe ich über das allgemein nachlassende Interesse an der Bibel nachgedacht. Man muss die Würde der heiligen Schriften wiederherstellen – jedoch nicht so, wie wir sie bisher aus der lateinischen Übersetzung kennen, sondern mit ganz neuem Antlitz. Was jetzt von der Kanzel verlesen wird und wirkungslos verpufft, wird dann in ursprünglicher und authentischer Form erscheinen, wie Gott zuerst gesprochen hat.“ Dem Wort Gottes wollte er also auf den Grund gehen, erforschen, was da im Urtext wirklich stand.
Im besagten Vorwort verlieh Reuchlin außerdem seiner Besorgnis Ausdruck, die hebräische Sprache könne „am Ende verloren gehen und verschwinden“. Die Kenntnis des Hebräischen wolle er deshalb an die Christen weitergeben: „Der schlimmen Lage der Juden zu unserer Zeit bin ich mir bewusst: Sie wurden nicht nur aus Spanien vertrieben, sondern auch bei uns in Deutschland. Man hat sie dazu gezwungen, sich anderswo anzusiedeln und zu den Muslimen auszuwandern.“
Bei der Begegnung mit Juden, beim Eintauchen in eine ihm bislang fremde Kultur wuchs Reuchlins Respekt vor den Andersgläubigen. „Ein Volk“, schrieb er 1517 in seinem dreibändigen Werk zur jüdischen Mystik (Die Kunst der Kabbala), „das zu Unrecht überall auf der Welt als barbarisch und wertlos abgetan wird.“
Gershom Sholem, einer der bekannten deutschjüdischen Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, würdigte Reuchlin als den „ersten nicht-jüdischen Erforscher des Judentums, seiner Sprache und seiner Welt.“ (Gershom Sholem 1969). Genau das hielt Reuchlin selbst für seine große Leistung, und so stellte er sich gerne dar: Als der glänzende Gelehrte, der „vir trinlingus“, der Mann, der die drei Sprachen der Bibel fließend beherrschte: Lateinisch, Griechisch und Hebräisch.
So sieht man es auf dem steinernen dreisprachigen Grabmonument, dass sich der Gelehrte vorsichtshalber schon zu Lebzeiten anfertigen ließ – wie es in seinen Kreisen damals zum guten Ton gehörte: Dieses Grabmonument aus dem Jahr 1501 steht in der Leonhardskirche in Stuttgart, wo er später tatsächlich seine letzte Ruhestätte fand.
Das Grabmonument trägt kein Porträtbild. Es ist ganz konzentriert auf das biblische Wort in den drei Sprachen der Bibel: Links oben hebräische Buchstaben: „Olacham chajim“, verdeutscht „Ewiges Leben“, rechts oben das griechische Wort „Anastasis“ für „Auferstehung“, darunter in lateinischen Lettern: „Im Jahre 1501 schuf Johannes Reuchlin dieses Denkmal für sich und seine geistigen Erben“.
Die Sieben Bußpsalmen (1512)
Im Jahr 1512 ließ Reuchlin seiner Sprachlehre die Edition und Übersetzung der „Sieben Bußpsalmen“ aus der hebräischen Bibel ins Lateinische mit ausführlichen textkritischen Erläuterungen folgen. Damit demonstrierte er die nutzbringende Anwendung seines Sprachenwerks für die Theologie und festigte sein Image als christlicher Hebraist.
Luther baut auf Reuchlin auf (1517)
Zu denen, die Reuchlins Werk besonders eifrig studierten, gehört der Augustinermönch Martin Luther in Wittenberg. Dessen erste eigene Veröffentlichung war die Übersetzung exakt jener „Sieben Bußpsalmen“ ins Deutsche, parallel zu seiner berühmten Psalmenvorlesung von 1517. In seinem Vorwort betonte Luther ausdrücklich, Reuchlins Übersetzung sei für ihn grundlegend gewesen: „Dazu beholffen [hat mir] die translation doctors Johannis Reuchlin yn seyner hebreischer septene.“ (Martin Luther, 1517)
Im Jahr darauf ließ er einen Brief an Reuchlin folgen: „Der Herr sei mit Euch, Ihr tapferer Mann! Ich gehöre zu denen, die auf Eurer Seite stehen wollten, aber es fand sich keine Gelegenheit dazu. Mit meinen Gebeten und Wünschen aber war ich Euch doch immer nahe. Ein zusätzlicher Beweggrund dafür, dass ich Euch endlich schreibe, ist der, dass unser Philipp Melanchthon auf diesem Brief an Euch bestanden hat, Alle guten Wünsche! Freut Euch im Herrn, mein mir wahrhaft verehrungswürdiger Lehrer! - Wittenberg, am Tag nach dem Fest der hl. Lucia [14. Dezember] 1518.“
Von einer Antwort auf diesen Brief ist nichts bekannt: Reuchlin selbst blieb zeitlebens auf Distanz zur Reformation. Ihm lag nichts an der Kirchenspaltung, ihn beschäftigte die Gemeinsamkeiten, das Thema des religiösen Dialogs zwischen Christen, Juden und Muslimen.
Reuchlins Werdegang
Johannes Reuchlin wuchs ins Zeitalter der Renaissance hinein. Geboren wurde er 1455 in Pforzheim, gestorben ist er 1522 in Stuttgart. Er komme „von ganz unten aus dem Volk“, schrieb er gegen Ende seiner Laufbahn an den Papst in Rom.
In welche Welt wurde Reuchlin hineingeboren? Eine Welt im Umbruch, zwischen Mittelalter und Neuzeit, voller Widersprüche, Tatendrang, Aufbruchstimmung, Entdeckungseifer und Fanatismus.
Seine steile Karriere war ihm nicht in die Wiege gelegt. Immerhin bot sich ihm als Sohn des Klosterverwalters die Chance, die renommierte Lateinschule in seiner Geburtsstadt zu besuchen, der kleinen badischen Residenzstadt am Schwarzwald. Zeitlebens unterzeichnete er seine Briefe mit dem Zusatz »phorcensis«, als Hinweis auf seine Herkunft aus Pforzheim.
Über sein eigenes Familienleben gibt es kaum Informationen. Seine beiden Ehen blieben kinderlos. Zur Verwandtschaft der Familie Reuchlin zählte die Familie Schwarzerdt aus Bretten. Es war Johannes Reuchlin, der Philipp Schwarzerdt als eine Art Ziehsohn förderte und dem hochbegabten 12-Jährigen im Jahr 1509 den Humanistennamen »Melanchthon« verlieh. Später vermittelte er ihm den Lehrstuhl für Altgriechisch an der Universität in Wittenberg – womit Melanchthon an die Seite Martin Luthers trat.
Weil er sich »durch eine schöne Stimme auszeichnete«, so erzählte Melanchthon später über seinen Mentor, sei der junge Johannes vom badischen Markgrafen entdeckt worden und durfte dessen Sohn Friedrich zum Studium an der Sorbonne nach Paris begleiten. Reuchlin entschied sich anschließend zum Jurastudium an den Universitäten in Poitiers und Orleans. Mit der Abschrift griechischer Texte verdiente sich der talentierte Student seinen Lebensunterhalt. An der frisch gegründeten Universität in Tübingen promovierte er dann zum Doktor des kaiserlichen Rechts.
Statt einer immerhin möglichen Laufbahn an der Universität öffnete sich ihm die Tür zu einer juristischen Karriere: Der 27-Jährige durfte seinen Landesherrn Graf Eberhard von Württemberg als Dolmetscher nach Florenz begleiten. Auf diese Weise lernte er die Stadt der Medici kennen, die europäische Metropole der Kultur- und Finanzwelt, und fand Zugang zum Kreis der dort versammelten italienischen und griechischen Humanisten. Und er freundete sich an mit Pico della Mirandola, einem jungen Freigeist und Philosophen. Pico war damals gerade dabei war, seine kühnen 900 Thesen zu entwickeln, über die er mit Gott und der Welt, vor allem aber mit dem Papst höchstpersönlich diskutieren wollte. Dazu kam es zwar nicht, doch unter der Schlagzeile „Die Würde des Menschen“ entfalteten Picos Thesen eine ideengeschichtliche Strahlkraft, die bis heute nachwirkt.
Reuchlin war tief beeindruckt, was sein Freund Pico da formulierte:
- Dass alle Menschen egal welchen Standes, welcher Kultur, welchen religiösen Bekenntnisses und welchen Geschlechts, vom Schöpfer der Welt mit Würde begabt seien, natürliche Rechte hätten.
- Und dass alle Menschen als Ebenbilder des Schöpfers grundsätzlich zunächst einmal Respekt verdienten, egal, ob sie in der menschengemachten Hierarchie ganz oben oder ganz unten stünden.
Was unseren Ohren vertraut klingen mag, besaß in der hierarchisch geordneten Welt des Spätmittelalters gehörige Sprengkraft. Die Amtskirche teilte solche Ansichten keineswegs. Für Reuchlin jedoch sollten sie zum Leitmotiv seines Lebens werden.
Zurück in Deutschland ließ sich der angehende Jurist als Anwalt in Stuttgart nieder, heiratete, übernahm diplomatische Missionen für verschiedene Landesherren und gehörte schließlich als Richter des Schwäbischen Bundes zu den Top-Juristen des Reiches. Kein Geringerer als Kaiser Friedrich III. berief ihn zum Ratgeber und erhob ihn als Dank für erwiesene Dienste in den Adelsstand. Das geschah im Jahr 1492 auf der kaiserlichen Burg in Linz an der Donau. Das Adelswappen, dass Reuchlin zu diesem Anlass als sprechendes Wappen selbst kreierte, zeigt oben ein Mühlrad für Müller, den Familienname seiner Frau, und unten in Anspielung auf eine Textstelle in der hebräischen Bibel einen Räucheraltar, von dem sich ein „Räuchlein“ wegkringelt, eine Anspielung auf seinen Nachnamen.
Ganz geradlinig verlief die Karriere nicht. 1496 musste Reuchlin das Herzogtum Württemberg vorübergehend verlassen, in Heidelberg fand er bei seinem Freund Johannes von Dalberg gastliche Aufnahme und schloss sich der „Sodalitas literaria Rhenana“ an, einer Vereinigung von Schriftstellern und Gelehrten. Das Exil beflügelte seine Kreativität, er schrieb Theaterstücke und Gedichte, wandelte auf den Spuren von Nikolaus von Kues, einem schon zu Lebzeiten berühmten Theologen und Universalgelehrten, dessen Bibliothek im St. Nikolausstift in Bernkastel-Kues bis heute zu besichtigen ist.
Fazit: Reuchlin war also kein Theologe, er war ein glänzend begabter und vielseitig interessierter Jurist und Literat. Er beriet den Kaiser und verschiedene Landesherren, er war Teilnehmer mehrerer Reichstage undRichter des Schwäbischen Bundes. Er war ein Vertreter des gebildeten aufstrebenden Bürgertums. Und er war ein führendes Mitglied im Netzwerk der „Gelehrtenrepublik“ europäischer Humanisten, die per Brief miteinander kommunizierten.
Hebräisch Lernen für Christen
Im Alter von rund 45 Jahren machte sich Reuchlin auf zu neuen Ufern und entschloss sich, wie bereits berichtet, zu einem ungewöhnlichen Schritt: In seiner vermutlich eher spärlich bemessenen Freizeit beschäftigte er sich mit dem Hebräischen, um das Heilige Buch der Juden in der Originalsprache lesen und verstehen zu lernen. Diese Sprache konnte man damals an keiner Universität lernen, da half nur der persönliche Kontakt zu schriftkundigen Tora-Gelehrten. Reuchlin setzte sich also über Schranken und Konventionen hinweg.
Ein Vorbote des heutigen Europas
Trotz dreisprachigem Grabdenkmal und Verdiensten ist Reuchlin als gelehrtes Genie aber einer von vielen - die Welt der Renaissancezeit war voll solcher Männer, die den Geniekult pflegten. Wissenschaftliche Verdienste legten den Grund, waren aber nicht selbst der Grund, warum sein Name nie gänzlich in Vergessenheit geriet. Da gab es noch ein entscheidendes Mehr. Genau dieses „Mehr“ ließ Reuchlin zu einem Vorboten zukünftiger Zeit werden, zu einem Vorboten der viel beschworenen Wertegemeinschaft des modernen Europas.
Der Augenspiegel (1511)
Abb.4: Inszenierung im Museum Johannes Reuchlin mit dem Titelblatt von Johannes Reuchlins »Augenspiegel«, gedruckt von Thomas Anshelm in Tübingen 1511 (Stadtarchiv Pforzheim, Treu 36305)
Juden und Judentum wurden zu Reuchlins Zeit dämonisiert. Diskriminierende rassistische Zuschreibungen und Vorurteile, Verschwörungstheorien und Angst beherrschten die christliche Vorstellungswelt. Das galt bekanntlich auch für Martin Luther, der ja sprichwörtlich dem Volk aufs Maul schaute. Den Juden warf man Christusmord, Brunnenvergiftung, Blasphemie und Hostienfrevel vor, sie galten als verworfenes Volk, als perfide (d. h. „treulos“), als Personifikation des Fremden und Anderen. Zur kirchlichen Glaubenslehre gehörte das Werk der Bekehrung dieser »Ungläubigen« unter Zwang, vorgeblich zu deren eigenem Seelenheil. Missionarischer Eifer und Fanatismus führten zu grausamen Pogromen, Kreuzzügen und Menschenverbrennung auf dem Scheiterhaufen.
In Deutschland besonders eifrig waren die Theologen der Universität Köln und der dortige Dominikanerorden, die im Jahr 1505 eine mediale Kampagne starteten, um mit Hilfe eines Konvertiten und Glaubensfanatikers namens Johannes Pfefferkorns den Kaiser unter Druck zu setzen. Das Ziel bestand darin, die verbliebenen jüdischen Gemeinden längs des Rheins nach spanischem Vorbild unter Zwang zum christlichen Glauben zu bekehren oder zu vertreiben. Dazu wärmte man altbekannte antijüdische Ressentiments und Verschwörungstheorien auf, verbreitete diese in Wort und Bild als Hassbotschaft und bediente sich dazu der innovativen Drucktechnik. Und tatsächlich ließ sich der deutsche Kaiser, Maximilian hieß er inzwischen, dazu hinreißen, ein Dekret zu unterzeichnen, um nach spanischem Vorbild den deutschen Juden „all ihre Bücher wegzunehmen“ – was auch geschah, so definitiv in Frankfurt und Worms. Die Listen der beschlagnahmten Bücher sind erhalten.
Und dann? „Soll man die Bücher der Juden verbrennen?“, lautete im Jahr 1510 die Frage, die Kaiser Maximilian den versammelten Gutachtern vorlegte. Eine eher rhetorisch gemeinte Frage…: Ja, geht in Ordnung, sagten die befragten Gutachter, allesamt Theologen. Nein, sagte einzig ein allseits bekannter Jurist:
In seinem Rechtsgutachten an den Kaiser, dass er 1511 unter den Titel „Augenspiegel“ veröffentlichte, warnt er: „Verbrennt nicht was ihr nicht kennt / Viel Schlimmes könnte daraus entstehen.“
Den „Augenspiegel“ verfasste Reuchlin in der Volkssprache Deutsch, ließ ihn in Tübingen drucken und auf der Messe in Frankfurt verteilen. Mit dieser Schrift bekundete er ein eigenes Umdenken und trat der allgegenwärtigen Judenfeindschaft entgegen. Seine einflussreiche Position als Rechtsgelehrter und Staatsmann warf er in die Waagschale, um an die im kaiserlichen Recht verbriefte Stellung der Juden als Bürger zu erinnern: Man soll sie im Rahmen des geltenden Rechts ihre Religion ausüben lassen. Die Juden seien als »Mitbürger« des Reiches anzuerkennen. Die Aufgabe der Obrigkeit sei es, so schrieb er an den Kaiser, seine Bürger vor Hass und Fanatismus zu schützen. Seinen Mitchristen schrieb er außerdem ins Stammbuch, die Bücher der Juden müssten wertgeschätzt werden, weil es auch die Quellen des eigenen Glaubens seien, ohne die das Christentum in der Luft hinge. Wo bitte gäbe es jüdische Hetze gegen Christen? Es sei doch gerade umgekehrt!
Ratsam sei es, Wissen und Bildung zu verbreite, einen kulturellen Austausch in Gang zu setzen, gegenseitige Vorurteile abzubauen und voneinander zu lernen. An jeder Universität sollten die jungen Leute deshalb Hebräisch lernen können.
Aus heutiger Sicht ist festzuhalten: Nicht gelehrte Werke waren es also, sondern das selbstlose Eintreten für die verachtete und diskriminierte Minderheit der Juden, mit der Reuchlin seiner Zeit weit voraus war und ein bis heute nachwirkendes Zeichen setzte.
Der »Augenspiegel« sollte zum Fanal werden: Eine hitzige Debatte brach los. Menschen aus ganz Europa quer durch alle Schichten melden sich zu Wort: Anhänger und Gegner Reuchlins, Fürsten, Männer der Kirche, Universitätsgelehrte, interessierte Bürger. Mit seiner Publikation von „Briefen gelehrter Männer“ erfand Reuchlin nebenbei auch die neuartige literarische Gattung des Leserbriefs.
Mit dem »Augenspiegel« schuf Reuchlin eine mutige und kraftvolle Gegenerzählung zu den allgemein verbreiteten negativen Darstellungen von Juden als minderwertigen Dienern und erbitterten Feinden der Christenheit. Den Hassprediger setzte er das Prinzip von Respekt und Dialog entgegen, Vielfalt schilderte er nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung. Mit diesem Standpunkt zog Reuchlin die Konsequenz aus der gewonnenen Überzeugung, das Judentum müsse als kultureller Beitrag zum Renaissance-Humanismus wertgeschätzt werden.
Ein damals höchst umstrittenes Votum. Fast zehn Jahre dauerte die Kontroverse, die mit Pro- und Contra-Streitschriften europaweit in der medialen Öffentlichkeit ausgetragen wurde.
Der Papst verurteilt den Augenspiegel (1521)
Jakob van Hoogstraten, der vom Papst für die deutschen Lande bestellte Inquisitor in Köln, erhob Anklage vor dem Kirchengericht, und nach langwierigen Verhandlungen sprach Papst Leo X. am 23. Juni 1520 das Urteil: Er verdammt den Humanisten zum ewigen Stillschweigen in der Sache und verbot den „Augenspiegel“ als ein „Ärgernis erregendes, unerlaubt judenfreundliches und daher frommen Christen anstößiges Buch“.
Mit dem Verbot des „Augenspiegel“ stand Reuchlin in den Augen seiner Gegner als Verlierer da. Seine Anhänger aber feiern ihn als Star: Seine Vorlesungen an den Universitäten in Ingolstadt (1520-1521) und Tübingen (1522) waren regelrecht überlaufen. „Die Wahrheit wird für mich streiten“, gab sich Reuchlin in einem Brief an Jakob Questenberg überzeugt.
Zeitgleich blieb Deutschland ein Unruhe-Herd: Das Verbot des „Augenspiegel“ geriet in den Schatten eines neuen Konflikts, nämlich der Androhung des Kirchenbanns an Luther, der daraufhin mit dem Papst brach und sich im April 1521 auf dem Reichstag in Worms vor dem Kaiser verantworten musste. Die Folgen sind bekannt: Mit dem Auftritt Martin Luthers auf dem Reichstag in Worms verschob sich die Aufmerksamkeit auf ein neues Thema - die Kirchenreformation.
Reuchlin-Revival im Zeitalter der Aufklärung
Rund 250 Jahre später erlebten Reuchlins humanistische Gedanken im Zeitalter der Aufklärung ein bescheidenes Revival. Tübingen machte (vermutlich 1822) mit einem „Reuchlin-Löwen“-Denkmal den Anfang. Der bayrische König ließ im Ruhmestempel der Walhalla 1842 eine Reuchlin-Büste aufstellen, in Paris findet man seinen Namen an prominenter Stelle eingeschrieben in die Außenwand der ab 1843 errichteten Bibliothek Sainte-Geneviève direkt neben dem Pantheon, in Baden-Baden blickt seine Porträtbüste vom Friedrichsbad herab, in Berlin fand er einen Platz an prominenter Stelle in einem großen Wandbild (kriegszerstört) zum „Zeitalter der Reformation“ im Neuen Museum. Mancherorts in deutschen Landen wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts auch Straßen nach Reuchlin benannt.
Das Reuchlin-Narrativ im deutschen Judentum
Abb.5: Heinrich Graetz, Geschichte der Juden, 1853.1873, Viertes Kapitel
Vor allem waren es die Gebildeten unter den Deutschen mit jüdischen Wurzeln, die ihre eigenen Bestrebungen zur Aufklärung (hebräisch »Haskala«), Emanzipation und Assimilation mit dem Gedenken an Reuchlin verbanden. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit legten die deutschen Juden in diese Figur hinein.
Der Historiker Heinrich Graetz schuf um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Monumentalwerk einer „Europäischen Geschichte des Judentums“, in dem er die Causa Reuchlin mit dem Judenbücherstreit in mehreren Kapiteln ausführlich darlegte. Graetz schilderte die europäische Welt um 1510 am Scheideweg (hebräisch „Schiboleth“): Würden sich Toleranz und Humanität oder würden sich Gewalt gegen Minderheiten und Fanatismus durchsetzen? In der Nachfolge von Graetz veröffentlichte Ludwig Geiger, der Sohn eines Rabbiners aus Breslau, 1871 eine Biografie Reuchlins, die Maßstäbe setzte.
So entwickelte sich im kollektiven Gedächtnis des deutschen Judentums im Zeitalter der eigenen Hoffnung auf Emanzipation und Aufklärung eine gruppenspezifische Erzähltradition: Den tradierten Erfahrungen von Bedrohung und Minderwertigkeit stellte man das hoffnungsvolle Narrativ vom »Wunder« der Errettung der heiligen Schriften und vom selbstlosen Einsatz eines Christen zugunsten der Minderheit entgegen. Heinrich Heine vereinnahmte Reuchlin als »unseren vortrefflichen Doktor Reuchlin«; für Ferdinand Lasalle offenbarte sich »im Kampf Reuchlins, welch neuer Drang die Welt bewegte«.
Fazit: Es gab also bestimmte Gruppen, die die Figur Reuchlin in die deutsche Geistesgeschichte einschreiben wollten – doch als nationale Heldenfigur taugte er nicht wirklich, diese Rolle war an Luther vergeben, der schon wegen seiner sprachmächtigen Bibelübersetzung ins Deutsche als Integrationsfigur galt.
Erinnerungspflege in Reuchlins Heimatstadt
Abb.6: Festschrift der Stadt Pforzheim zur Erinnerung an den 400. Todestag Johannes Reuchlins, Pforzheim 1922 (Stadtarchiv Pforzheim, T Reu 33615)
Abb.7: Museum Johannes Reuchlin, Ausstellungsbegleitbuch, Heidelberg 2012
Auch Reuchlins Heimatstadt Pforzheim stand keineswegs abseits. Diese bis dato protestantisch-lutherisch geprägte Stadt hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch Zuwanderung von Hugenotten, Waldensern, württembergischen Pietisten, Katholiken, Altkatholiken und Juden zu einer Stadt mit religiöser Bekenntnisvielfalt entwickelt.
1855 organisierten Lehrkräfte des Pädagogikums eine Feierstunde zu Reuchlins 400. Geburtstag, 1905 wurde das Pädagogikum zum Gymnasium erhoben und nach Reuchlin benannt. In die Zeit der Republik von Weimar fiel Reuchlins 400. Todestag, Gedenkveranstaltungen dazu fanden in der Pforzheimer Synagoge, in der Stadthalle und im evangelischen Gemeindehaus statt. Ein Museum „für den größten Sohn der Stadt“ wurde auf den Weg gebracht und 1924 eingeweiht; dieses Reuchlinmuseum fiel dann nur zu bald dem von Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieg zum Opfer.
In der Nachkriegszeit wurden die lokalen Bemühungen um die Etablierung einer Gedenkkultur wieder aufgenommen und mit nachhaltigem Erfolg weiterentwickelt. Zu Reuchlins 500. Geburtstag im Jahr 1955 organisierte die Stadt Pforzheim erneut eine Feier, stiftete einen nach Reuchlin benannten Wissenschaftspreis, eröffnete 1961 ein nach Reuchlin benanntes Kulturzentrum und machte in Zusammenarbeit mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften die Förderung der wissenschaftlichen Erforschung von Reuchlins Leben, Werk und Wirkung zu einem Langzeitprojekt der Kulturpolitik, die reiche Früchte tragen sollte.
Im Jahre 2008 gelang es zudem, als neue Erinnerungsstätte das Museum Johannes Reuchlin an der Schloßkirche zu etablieren.
Das Reuchlinjahr 2022
Abb.8: Logo des Pforzheimer Reuchlinjahres 2022
Blicken wir auf das Jahr 2022: Dann jährt sich Reuchlins Todestag zum fünfhundertsten Mal. Überregionale Beachtung ist zu erwarten. Unter dem Motto „Reuchlin gehört uns allen“ bereitet die Pforzheimer Stadtgesellschaft für 2022 ein umfangreiches Programm vor - von musikalischen Beiträgen über Theater, Ausstellungen bis hin zu etablierten Formaten wie der Feier von Reuchlins Geburtstag am 29. Januar, dem 9. Internationalen Reuchlinkongress vom 29. Juni bis 1. Juli sowie der Verleihung des Reuchlinpreises am 15. Oktober.
Fazit: Die Reuchlin-Story kann ein Türöffner sein, um ins Gespräch zu kommen: Wo bereichert uns das Fremde, wo macht es uns Angst? Wo müssen wir die offene Gesellschaft schützen vor ihren Feinden? Was fördert den Zusammenhalt? Aktuelle Themen, denen angesichts einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft und schwindender konfessioneller Bindungen eine wichtige Orientierungsfunktion bei der Verständigung auf gemeinsame Wertvorstellungen zukommt. Menschenwürde und Menschenrechte, die selbstlos zu verteidigen Reuchlin für seine Pflicht hielt - sie sind immer wieder gefährdet, - sie gilt es immer wieder zur Sprache zu bringen.
Referat zu Johannes Reuchlin, 6. August 2021
Referent: Dr. Christoph Timm, Reuchlin-Beauftragter der Stadt Pforzheim
Kurzbiografie:
CHRISTOPH TIMM, Dr. phil., geb. 1954 in Hamburg, Studium der Kunstgeschichte, Archäologie, Mittleren und Neuen Geschichte an der Universität Hamburg. 1988-2020 Städtischer Denkmalpfleger in Pforzheim, Kurator des Museums Johannes Reuchlin und Reuchlin-Beauftragter der Stadt Pforzhei
Resüme / Zusammenfassung:
Die Lebensleistung des südwestdeutschen Humanisten Johannes Reuchlin (1455– 1522) bestand in der Inklusion des Hebräischen in das Projekt des Renaissance-Humanismus. Aus dem Medienereignis des Judenbücherstreits („Der Augenspiegel“ 1511: „Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt“) erwuchs Reuchlins Erzählung von der Wertschätzung der kulturellen Vielfalt und von der Pflicht zum Schutz der verfolgten, diskriminierten und marginalisierten Minderheiten der europäischen Juden. Er sei »ein Weiser der Völker«, durch ihn habe der Herr ein Wunder im Wunder bewirkt, schrieb der Rabbiner Josel von Rosheim. Diese Erzählung hinterließ einen bleibenden Eindruck und sollte zu einem Vorboten der viel beschworenen Wertegemeinschaft des modernen Europas werden. Am 30. Juni 2022 jährt sich Reuchlins Todestag zum fünfhundertsten Mal.
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